Das goldene Ufer
einen richtigen Sonntagsrock schneidern zu lassen, hatte der Graf auf Einwirken seiner Gattin verschoben, weil Elfreda von Renitz der Meinung war, der Junge würde zu schnell herauswachsen.
Doch nicht nur für Walther, sondern auch für Gisela änderte sich nun einiges. Zuerst hatte Pastor Künnen überlegt, sie einzeln zu unterrichten, doch das hätte Zeit gekostet, die er nicht verschwenden wollte. Daher saß das Mädchen jetzt an einem kleinen Tisch in der Nähe der Tür mit dem Rücken zu den Jungen und malte das Abc von einer Vorlage ab.
Für das, was das Mädchen lernen sollte, hätte Künnen es auch in die Dorfschule schicken können. Dort brachte sein Küster den Kindern das Alphabet und die Grundlagen des Rechnens bei. Den Älteren, die bereits ihrer Konfirmation entgegensahen, bleute Künnen jedoch höchstpersönlich die notwendige Gottesfurcht ein. Aber den faulen Apfel, wie er Gisela im Stillen nannte, wollte er nicht zu den anderen Kindern stecken, damit sie niemanden mit ihrem katholischen Aberglauben vom rechten Weg abbringen konnte. Außerdem hatte er seine Absicht, eine Protestantin aus ihr zu machen, noch lange nicht aufgegeben. Er würde allerdings vorsichtig zu Werke gehen müssen, damit ihm Graf Renitz nicht auf die Schliche kam.
Während Künnen den Blick zufrieden über seine beiden Schüler und die Schülerin gleiten ließ, lobte er sich selbst für seine Klugheit, die ihm den angenehmen Posten auf Renitz eingebracht hatte.
Unterdessen war Gisela mit dem Abc fertig und überlegte, ob sie den Pastor auf sich aufmerksam machen sollte, damit er ihr eine neue Aufgabe erteilte. Da trat Künnen hinter Walther, schaute auf dessen Tafel und hob seine Rute, die er nie aus der Hand legte. »Hier ist ein Fehler. Du weißt, was das bedeutet!«
Walther stand auf, beugte sich nach vorne und nahm den Rutenhieb ohne sichtliche Gefühlsregung hin.
»Dies wird dich lehren, das nächste Mal besser achtzugeben!«, erklärte Künnen und forderte nun Diebold auf, für die fällige Bestrafung aufzustehen.
Da sich diese Szene an diesem Vormittag mehrfach wiederholte, begriff Gisela, dass Walther nur deshalb geschlagen wurde, weil der Pastor es nicht wagte, nur Graf Diebold zu züchtigen. Diese Ungerechtigkeit machte sie wütend. Doch auch sie selbst blieb nicht verschont. Als der Pastor auf ihre Schiefertafel blickte, erklärte er drei der abgemalten Buchstaben für misslungen und wippte auffordernd mit dem Stock.
»Steh auf und beuge dich über den Tisch!« Auf seiner Miene stand die Vorfreude auf das, was nun kommen würde. Am liebsten hätte Künnen dem Mädchen befohlen, den Rock zu heben, um ihm die Hiebe auf das blanke Hinterteil geben zu können. Doch da die Knaben bei ihrer Bestrafung die Hosen anbehielten, sah er davon ab. Er führte die Rute jedoch recht kräftig und lachte höhnisch, als Gisela danach mit den Tränen kämpfte.
»Achte das nächste Mal besser auf das, was du schreibst, sonst wird die Rute noch öfter auf deinem Hintern tanzen!«
Dann trat er wieder zu Walther. An dessen Arbeit war jedoch selbst nach strengsten Kriterien nichts auszusetzen, und so blieb Diebold eine Strafe für die drei Fehler erspart, die sich in seinen Text eingeschlichen hatten.
Trotz der Ungerechtigkeiten des Pastors war Walther froh um den Unterricht. Als Trommelbub war er weit genug herumgekommen, um zu wissen, dass jemand, der es zu etwas bringen wollte, eine gewisse Bildung brauchte. Daher lernte er eifrig und achtete auch auf das, was Künnen dem jungen Grafen beibrachte. Zwar verstand er noch nicht alles, doch im Lauf der Zeit fügte sich das, was er mit anhörte, zu einem Ganzen zusammen. Um mit möglichst wenigen Schlägen auszukommen, bemühte er sich, keine Fehler zu machen. Dies riet er auch Gisela, als sie an diesem Tag den Unterrichtsraum verließen, um unten im Gesinderaum neben der Küche ihr Mittagessen einzunehmen.
»Du bist doch ein kluges Mädchen. Außerdem weiß ich, dass du bereits lesen kannst.«
»Die Mama hat es mir beigebracht, und auch der Papa, wenn er Zeit dafür hatte. Aber das Buchstabenmalen ist etwas ganz anderes«, sagte Gisela. Sie war kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen, denn sie fürchtete sich vor dem Pastor, seit sie den Mann zum ersten Mal gesehen und seine ablehnenden Worte gehört hatte. Diese Angst war mit seinen Hieben noch gewachsen. Sie strich sich erneut über das schmerzende Hinterteil und schüttelte störrisch den Kopf. »Wenn er mich jeden Tag
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