Das goldene Ufer
zog die Schultern hoch. »Da wir beide Waisen sind, müssen wir froh sein, ein Dach über dem Kopf zu haben und uns satt essen zu können. Weitere Ansprüche dürfen wir nicht stellen.«
»Das Leben ist ungerecht!«, fand das Mädchen. »Den einen gibt es so viel und vielen anderen so wenig.«
»Genauso kannst du fragen, weshalb die Sonne nur am Tag scheint und nicht auch in der Nacht oder warum der Mond sein Gesicht ändert und er nur einmal im Monat voll zu sehen ist«, antwortete Walther mit einem gekünstelten Lachen.
»Unser Herrgott im Himmel hat es so bestimmt«, erklärte Gisela mit Nachdruck.
»Aber warum?«
Gisela starrte Walther verwundert an. »Braucht Gott einen Grund, um etwas so zu schaffen, wie es ihm gut dünkt?«
»Er gab uns seine Zehn Gebote, in denen es heißt: Du sollst nicht töten! Trotzdem schlachten wir uns im Krieg gegenseitig ab.«
Die Erinnerung an die Schlacht bei Waterloo kam erneut in Walther hoch, und er spürte wieder das Grauen, das er angesichts der blutigen Walstatt empfunden hatte.
Auch Gisela schüttelte sich, wies dann aber auf eine Stelle, an der einige besonders schöne Pilze wuchsen. »Die solltest du dir nehmen. Mein Korb ist nämlich schon fast voll!«
»Gerade mal halb«, antwortete Walther nach einem prüfenden Blick und zog sein Messer. »Wir teilen sie uns. Dank meiner Mutter kenne ich weiter vorne noch einen Platz, an dem Steinpilze wachsen. Wenn uns keiner zuvorgekommen ist, können wir dort unsere Körbe füllen.« Noch während er sich bückte und die Pilze abschnitt, hörten Gisela und er Schritte und drehten sich um.
Der Mann, der sich ihnen näherte, war der Förster. Er musterte die beiden, sicherte aufatmend seine schussbereit gehaltene Flinte und schulterte diese.
»Ihr seid es bloß! Aber ihr solltet euch vorsehen. Es treibt sich viel Gesindel im Land herum, das von den Kriegen entwurzelt worden ist. Sie morden um eines Korbs voll Pilze willen ebenso wie wegen eines Beutels mit Gold.«
»Ist es wirklich so schlimm?« Walther versuchte, den Mann unsympathisch zu finden, weil dieser den Platz einnahm, den er sich in einigen Jahren für sich erhoffte, doch es gelang ihm nicht.
Holger Stoppel war um die dreißig, sehnig gebaut und hatte ein ehrliches, offenes Gesicht. Nachdenklich musterte er Walther. »Du bist doch der Sohn des Försters Fichtner. Das soll ein guter Mann gewesen sein, habe ich sagen hören. Sein Nachfolger hat nicht an ihn herangereicht und das Revier verkommen lassen. Nun bin ich dabei, es wieder in Ordnung zu bringen. Die Jahrbücher deines Vaters sind mir dabei eine große Hilfe. Es ist schade, dass er seinen Posten verlassen musste, um Soldat zu werden.«
»Waren Sie kein Soldat?«, fragte Walther.
Der Förster nickte verbissen. »Doch, das war ich! Aber ich kann nicht sagen, dass es mir gefallen hätte. Ich schieße nämlich nicht gerne auf Menschen. Auch gefällt es mir wenig, selbst eine Kugel aufgebrannt zu bekommen.«
»Sind Sie verwundet worden?«, wollte Gisela wissen.
»Ja, bei Leipzig! Hätte mich nicht eine wackere Frau aus Lützschena in ihr Haus gebracht, wäre ich wohl unter den Händen des Regimentschirurgen krepiert.«
Der Mann atmete tief durch und sah dann die Kinder mit einem gezwungenen Lächeln an. »Aber lasst euch davon nicht den Kopf schwermachen, sondern sammelt eure Pilze. Ich bleibe in der Nähe, damit euch kein Schurke etwas antun kann.«
»Danke!«, sagte Walther und meinte es ehrlich. Nun, da er den neuen Förster kennengelernt hatte, ärgerte er sich doppelt, weil der Graf sein Versprechen, ihm eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, vergessen zu haben schien.
3.
A ls Gisela und Walther eine Stunde später mit vollen Körben dem Hintereingang des Schlosses zustrebten, kam ihnen Medard von Renitz entgegen. Dieser sah sie und ihre Körbe verwundert an, sagte aber nichts, sondern kehrte zum Schloss zurück. Dort trat er durch die Tür, die ein Lakai rasch für ihn öffnete, und stieg die Treppe zu den Gemächern seines Sohnes hinauf. Er traf Diebold über ein Schreibheft gebeugt an, während der Pastor mit der Rute in der Hand wie ein drohender Schatten vor dem Fenster stand.
»Ich muss mit Ihnen sprechen, Pastor!« Renitz’ Worte klangen hart und rissen seinen Sohn aus der Konzentration. Die Schreibfeder vollführte einen Schwenk, der nicht hätte sein sollen, und Diebold stieß einen wüsten Fluch aus.
Der Pastor schnaubte und holte mit der Rute aus, um den jungen Mann zu bestrafen. Doch
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