Das goldene Ufer
würde Diebold diese Strafe nicht ersparen können, falls sein Sohn erkannt worden war.
Als Diebold von den lauten Stimmen im Erdgeschoss angelockt die Treppe herabpolterte, schalt die Witwe Haun ihn nicht aus, sondern erzählte ihm entrüstet, was ihr Dienstmädchen eben berichtet hatte.
Diebold trank einen Schluck Bier und aß einen Bissen Brot, bevor er Antwort gab. »Welch eine Dreistigkeit! Man könnte beinahe an Gottes heiliger Welt verzweifeln.«
Während die Witwe ihm wortreich zustimmte, fragte Walther sich, ob der junge Renitz wirklich nicht in diesen Vorfall verwickelt war oder nur kühles Blut bewahrte. Doch selbst wenn er unschuldig war, würde es Diebold nicht helfen, wenn ihn jemand auf seinem Heimweg beobachtet hatte. Die Behörden und die Spitzen der Universität brauchten ein Opfer, das sie bestrafen konnten.
Der Schlag der Turmuhr erinnerte Walther daran, dass gleich die Klausur begann. Rasch beendete er sein Frühstück und stand auf. »Ich muss gehen, wenn ich nicht zu spät kommen will.« Es sollte eine Aufforderung an Diebold sein, sich ebenfalls zu beeilen, doch dieser dachte nicht daran.
»Sollte Professor Artschwager nach mir fragen, so sage ihm, ich hätte einen Brief meiner Mutter – nein, besser meines Vaters – erhalten, den ich dringend beantworten muss«, erklärte der junge Renitz und aß gemütlich weiter.
Als Walther kurz darauf die Universität erreichte, sah er, dass vor den Toren Gendarmen postiert waren und überall lauthals schimpfende Studenten herumstanden. Einige Professoren hatten sich direkt am Portal des Haupthauses versammelt und schienen zu beraten, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollten.
Gleichzeitig lief ein Stadtknecht durch die Straßen, läutete seine Glocke und forderte die Bürger auf, umgehend bei den Behörden zu melden, ob einer gesehen habe, von wem dieses fluchwürdige Verbrechen begangen worden sei.
Landolf Freihart kam als Erster auf Walther zu. »Ha… hast du scho… schon da… davon gehört?« Vor Aufregung stotterte er noch stärker als sonst.
»Das Dienstmädchen unserer Hauswirtin hat es berichtet. War es wirklich so schlimm, wie sie behauptet hat?«, fragte Walther verwundert.
Mit einer ausholenden Geste wies Landolf auf die Gendarmen. »Gla…ubst du, di… die wären als Ehrengeleit für uns aufgezogen?«
Langsam bekam er seine Sprache wieder in den Griff und flüsterte Walther sein Wissen ins Ohr. »Wahrscheinlich waren es die Studenten eines höheren Semesters. Die haben in der Nacht lange gezecht und dabei anstößige Lieder gesungen. Ich habe es gehört, weil mein Quartier gegenüber der Schenke liegt. Es ging dabei auch um Seine Majestät, König Georg, und dessen nicht gerade keusch zu nennenden Lebenswandel in London.«
Stephan Thode war zu ihnen getreten und sprach in seiner Erregung fast zu laut. »Das sind Sachen, die sich die hohen Herren ungerne vorwerfen lassen. Dabei leben sie wie die Maden im Speck, fordern aber von ihren Untertanen, dass diese vor ihnen buckeln und alles gutheißen sollen, was sie tun.«
»Sei bitte vorsichtig!«, warnte Landolf ihn. »Wenn dich einer der Gendarmen oder die Professoren hören, sagen sie gleich, du wärst es gewesen! Dann bist du für dein Leben abgestempelt. Du würdest nie einen guten Posten erhalten und Karriere machen können.«
Stephan schüttelte wütend den Kopf. »Ich sagte gestern schon, dass ich nicht in diesem Land der Ducker und Speichellecker bleiben will. Sobald ich dazu in der Lage bin, verlasse ich unser Vaterland, das doch nur das Paradies der kleinen Fürsten und mittelgroßen Könige ist, und wandere nach Amerika aus. Dort gilt der Mann etwas und nicht seine Herkunft.«
»Ich bitte dich, Stephan, mäßige dich!«, bat nun Walther den aufgebrachten Thode, der sich nun langsam beruhigte. Das mochte auch an Professor Artschwager liegen, der in diesem Moment vor die Studenten trat.
»Sie haben alle von dieser abscheulichen Tat – ich wiederhole: von dieser abscheulichen Tat – gehört. Ich fordere den Schuldigen bei seiner Ehre auf, sich zu bekennen, um nicht auch noch als Feigling zu gelten.«
Artschwagers Stimme trug weit, doch keiner rührte sich. Dies wunderte Walther nicht, denn Landolf Freiharts Hinweis auf die älteren Studenten hatte ihn in der Meinung bestärkt, dass Diebold mit von der Partie gewesen sein musste. Der junge Renitz hatte sich nicht seinen Studienkameraden im gleichen Semester angeschlossen, sondern gleichaltrigen Adligen, die
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