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Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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meiner Kammer war stickig. Daher habe ich das Fenster geöffnet.«
    Der Professor spitzte spöttisch den Mund. »Die Witwe Haun dürfte Ihnen wohl kaum so viel Feuerholz zumessen, dass es in Ihrer Kammer stickig wird. Ich könnte aus Ihren Worten schließen, dass Sie in der Nacht heimlich mittels eines Seiles oder zusammengebundener Bettlaken Ihr Zimmer verlassen haben, zum Hauptplatz gelaufen sind, dort der Statue unseres allergnädigsten Landesherrn die Narrenkappe aufgesetzt haben und anschließend auf demselben Weg wieder in Ihre Kammer zurückgekehrt sind.«
    Walther wusste kaum, wie ihm geschah. Die Universität und die Behörden brauchten einen Sündenbock, und wenn es Artschwager einfiel, ihn dazu zu machen, war er erledigt. »So war es nicht, Herr Professor! Ich habe es gewiss nicht getan!«, stieß er atemlos hervor.
    »Natürlich haben Sie das nicht! Für so etwas haben Sie gar nicht den Mut. Ich denke eher, dass Sie Diebold von Renitz geholfen haben, ins Haus der Witwe Haun zu gelangen. Er wurde nämlich mit einigen älteren Studenten nach der Zeit, an der Ihre Hauswirtin die Tür zu verschließen pflegt, in einer Gastwirtschaft gesehen. Übrigens war er der Einzige, dessen Heimweg über den Hauptplatz und damit an dem Denkmal Seiner Majestät, König Georg, vorbeiführte.«
    »Dazu kann ich nichts sagen, Herr Professor. Ich war nicht dabei.« Walther wand sich vor Unbehagen und überlegte verzweifelt, wie er Artschwager von seinem Verdacht gegen Diebold abbringen konnte.
    Dieser musterte ihn kopfschüttelnd. »Wissen Sie, Fichtner, dass Sie mich in eine elende Zwickmühle gebracht haben? Melde ich Sie als den Täter, opfere ich einen Unschuldigen, nur damit jemand bestraft werden kann, und zerstöre damit Ihre Zukunft. Und glauben Sie nicht, dass Graf Diebold die Verantwortung für diesen Streich – und mehr war es wirklich nicht! – übernehmen würde. Dies täte er nicht einmal, wenn Sie dafür am Galgen hängen sollten. Ich kann aber auch Graf Diebold nicht beschuldigen, denn damit wäre Ihre Zukunft ebenso zerstört. Fichtner, Sie sind mein bester Student und könnten Karriere machen – so weit eben ein Mann bürgerlicher Herkunft aufsteigen kann. Doch die Universitätsleitung fordert einen Schuldigen. Den allerdings kann ich ihr nicht liefern, ohne Sie zum Sündenbock zu machen.«
    Artschwager wies durch das Fenster auf den Platz hinaus. Dort war das Standbild König Georgs längst von seiner ungewohnten Zier befreit worden, aber es standen immer noch Menschen darum herum und tauschten sich aufgeregt aus.
    »Auch diese Leute wollen einen Schuldigen haben. Deshalb dispensiere ich Sie für die restlichen zwei Wochen von allen Vorlesungen. Diese Zeit werden Sie im Karzer verbringen. Außerdem werden Sie die Ferien über hier in Göttingen bleiben und mir bei der Sortierung meiner Sammlungen helfen.«
    »Warum tun Sie das?«, fragte Walther verwirrt.
    »Zum einen, weil ein Student im Karzer den Leuten zeigt, dass hier durchgegriffen wird. Zum anderen will ich Ihnen Ihre Zukunft nicht verbauen. Ich werde verlauten lassen, dass Sie aus dem Karzer herausgelassen werden, sobald sich der wahre Schuldige bei mir meldet, was er – wie ich vermute – nicht tun wird. Außerdem halte ich es für besser, wenn Sie ein paar Tage in Ruhe verbringen können, ohne eine Art studentischer Lakai des jungen Renitz zu sein«, erklärte Artschwager entschlossen und machte dabei aus seiner Verachtung für Diebold keinen Hehl.
    Doch Walther achtete nicht darauf. »Wenn ich über die Feiertage hierbleiben muss, sollten Sie mich im Karzer lassen. Die Witwe Haun hat bereits angekündigt, dass sie unsere Betten für Verwandte braucht, die sie zu der Zeit besuchen.«
    Der Professor musste lachen. »Dann schlafen Sie eben in meinem Haus. Es wird sich schon ein Bett für Sie finden. Außerdem wird der Karzer für Sie nicht zu langweilig werden, denn Sie erhalten von mir Bücher, die Sie für Ihren weiteren Studiengang benötigen. Allerdings frage ich mich, was Graf Diebold anfangen wird, wenn er auf Ihre Unterstützung verzichten muss.«
    In dem Augenblick begriff Walther, dass die Strafe des Professors weniger ihn als vielmehr seinen Zimmernachbarn treffen sollte. Doch Diebold würde ihn auch dafür verantwortlich machen, und in diesem Moment empfand er seine Abhängigkeit von dessen Vater bedrückender denn je.
    »Und was ist mit dem Vorfall von heute Nacht?«
    Artschwager sah selbstbewusst auf ihn herab. »Nach Weihnachten

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