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Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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und es schauderte ihn bei der Kälte, die sofort hereindrang. Als er den Fensterladen aufstieß, sah er Diebold unten auf der Gasse stehen. Dieser schwankte und wies ihn mit Gesten und leisen Worten an, ihn mit einem Seil oder etwas Ähnlichem hochzuziehen.
    »Wo soll ich ein Seil hernehmen?«, fragte Walther.
    Diebold wedelte heftig mit der Hand und legte kurz den Finger auf die Lippen »Sei leise, damit niemand etwas merkt!«
    Seufzend machte Walther sich ans Werk. Ein Seil besaß er nicht, doch als er sein und Diebolds Bettlaken zusammenknotete und ein Ende hinabließ, reichte es gerade so weit nach unten, dass Diebold es mit ausgestreckten Armen packen konnte.
    Schwieriger war es, ihn hochzuziehen, denn sie durften keinerlei Lärm machen. Würden sie die Witwe oder ihren dienstbaren Geist wecken, drohte ihnen größter Ärger. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es Walther, Diebold durch das schmale Fenster in das Innere des Zimmers zu ziehen.
    Während der junge Renitz aufatmete, legte Walther die Läden vor. Dabei bemerkte er, dass weiter vorne ein später Passant um die Ecke bog und kurz herübersah. Schnell schloss er das Fenster.
    Der junge Renitz grinste ihn übermütig an. »Das war ein Spaß! Du hättest dabei sein sollen.«
    Immer, wenn er gut gelaunt war, behandelte Diebold Walther wie einen Freund.
    Dieser schüttelte nachsichtig den Kopf. »Es war besser, dass ich hier war. Sonst hätte niemand Euch helfen können, ins Haus zu kommen.«
    »Auch wieder wahr!«, gab Diebold zu und reckte sich. »Der Abend ist doch etwas lang geworden. Ich bin ganz schön müde.« Gähnend forderte er Walther auf, ihm die Stiefel auszuziehen.
    »Du kannst sie, wenn sie trocken sind, mit einer Schweineschwarte abreiben, damit ihnen der Schnee nicht zusetzt«, setzte er hinzu.
    »Ich habe alles aufgeschrieben, was ich für die morgige Klausur für wichtig erachte!«
    Diebold winkte ab. »Das sehe ich mir morgen beim Frühstück an. Jetzt will ich schlafen.«
    »Gute Nacht«, wünschte Walther, ohne eine Antwort zu erhalten.

10.
    A m nächsten Morgen verharrte die Witwe neben dem Esstisch, wo Walther sein Frühstück verzehrte, und blickte immer wieder zur Treppe hoch.
    »Wo bleibt Graf Diebold?«, fragte sie schließlich.
    Walther hätte ihr sagen können, dass dieser wegen seines Rausches zu spät erwacht war. Stattdessen entschuldigte er ihn. »Der Herr Graf liest noch in seinen Büchern, um sich auf die heutige Klausur vorzubereiten.«
    Damit konnte er die Witwe nicht besänftigen. »Graf Diebold weiß, dass um sieben Uhr dreißig gefrühstückt wird, und hat sich daran zu halten. Holen Sie ihn!«
    Insgeheim seufzend stand Walther auf, stieg nach oben und klopfte an Diebolds Tür. »Herr Graf, unsere Hauswirtin wünscht, dass Ihr zum Frühstück erscheint!«
    »Der alte Drachen soll sich nicht so haben«, kam es unwirsch zurück. Dann aber schien Diebold sich darauf zu besinnen, dass er bei der Witwe mit Frechheit nichts erreichen konnte, und setzte hinzu, dass er gleich käme.
    Walther hoffte es in seinem Interesse und ging wieder nach unten. Bevor er etwas sagen konnte, erschien das Hausmädchen und platzte lauthals mit Neuigkeiten heraus.
    »Diese Studenten, dieses Lumpengesindel! Nur sie können es gewesen sein.«
    »Was ist denn geschehen?«, fragte die Witwe verwirrt.
    »Man hat das Denkmal unseres allergnädigsten Landesherrn geschändet!«
    »Was sagst du da?«
    Frau Haun trat erschrocken einen Schritt zurück, während Walther ahnungsvoll nach oben schaute. Ihm war Diebolds außergewöhnlich gute Laune noch in bester Erinnerung.
    »Irgendjemand hat Seiner Majestät, König Georg, eine Narrenkappe aus Schnee aufgesetzt!«, erklärte die Magd empört.
    »Dem König?«, fragte die Witwe entsetzt.
    »Nein, seinem Standbild! Aber das ist genauso schlimm, als hätte man es Seiner Majestät persönlich angetan.«
    Dies schien Frau Haun ebenso zu sehen, denn sie ließ kein gutes Haar an den Studenten der Stadt, ohne sich darum zu scheren, dass der Mietzins, den sie für Diebold und Walther erhielt, ihr ein gutes Auskommen sicherte.
    Walther hoffte gegen sein inneres Empfinden, dass Diebold nichts mit diesem Scherz zu tun hatte, und wenn doch, dass er unbeobachtet geblieben war. Dem Standbild des Herrschers eine Narrenkappe aufzusetzen, und sei sie auch aus Schnee, galt als Kapitalverbrechen, das für einen Studenten als geringste Strafe den sofortigen Verweis von der Universität nach sich zöge. Selbst Graf Renitz

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