Das goldene Ufer
schnell das Hemd. Du kannst das deine derweil ausziehen.« Rasch verließ Gisela den Raum und ließ Walther als Opfer widerstrebender Gefühle zurück. Neugierig musterte er die Kleidung, die Gisela zum Empfang der Gäste tragen sollte, und stellte sich vor, wie sie darin aussehen würde. Mit einem Mal spürte er, dass sie für ihn nicht nur seine Freundin aus gemeinsamen Kindertagen war. Er begehrte sie als Frau. Aber dazu konnte es leider nicht kommen, weil sie katholisch war. Eine heimliche Liebschaft ließ ihr Glaube nicht zu, und er würde sie auch nicht dazu drängen.
Außerdem bestand die Gefahr einer Schwangerschaft. In einem solchen Zustand würde sie von Glück sagen können, wenn sie auf dem Gut des Grafen als Tagelöhnerin arbeiten durfte und nicht gleich davongejagt wurde. Walther fand es ungerecht, dass Frauen weitaus härter bestraft wurden als Männer, obwohl diese oft die eigentliche Schuld daran trugen, wenn ein Mädchen schwanger wurde. Das galt auch für Diebold. Dieser hatte Osma bedenkenlos benutzt, und jetzt war das arme Ding samt dem Kind, das sie getragen hatte, tot.
»Du hast ja dein Hemd noch nicht ausgezogen!«, rief Gisela, als sie zurückkam, und wunderte sich über Walthers finstere Miene. Dieser zog nun sein Hemd über den Kopf und stand mit bloßem Oberkörper vor ihr. Zwar hatte Gisela schon öfter Knechte gesehen, die sich halbnackt am Brunnen wuschen, sich aber nie etwas dabei gedacht. Nun fühlte sie sich auf einmal beklommen. Walther sieht gut aus, dachte sie und spürte ihr Herz schneller schlagen. Er hatte ein ebenmäßiges, wenn auch meist ernst blickendes Gesicht, breite Schultern und genug Muskeln an den Armen und auf der Brust, um männlich zu wirken. Seufzend reichte sie ihm Diebolds Hemd.
»Ich werde es an den Schultern und unter den Armen etwas weiter machen müssen«, sagte sie und forderte ihn auf, Weste und Rock anzulegen. »Hoffentlich passen die Sachen halbwegs. Ich habe auch noch andere Aufgaben, als nur hier zu sitzen und zu nähen!«
Als Walther angekleidet war, konnte sie jedoch sehen, dass er bis auf die etwas kräftigeren Oberschenkel die Figur seines Ahnen geerbt hatte. Weste und Rock passten ausgezeichnet, und das galt auch für die Perücke und den Dreispitz.
Erleichtert atmete sie auf. »So, jetzt kannst du dich wieder umziehen. Lass dir von Cäcilie etwas zu essen mitgeben, wenn du nach Hause gehst, dann brauchst du nicht zu kochen. Das ist laut Herrn Stoppel eine Kunst, die du nicht beherrschst. An deiner Stelle, meint er, hätte er sich längst eine Haushälterin besorgt!«
Noch während sie es sagte, begriff Gisela, wie wenig es ihr gefallen würde, eine andere Frau ins Forsthaus einziehen zu sehen, und wechselte rasch das Thema. »Herr Stoppel meint auch, du solltest dir einen oder zwei Knechte zulegen. Der Förster eines Grafen dürfe einfach nicht so leben wie du!«
»Dafür habe ich meine Gründe. Irgendwann einmal werde ich sie dir verraten«, antwortete Walther.
»Ist es wegen Amerika?«
»Sei still!«, rief Walther erschrocken aus. »Das darf hier niemand erfahren!«
»Ich halte schon den Mund.« Ein wenig wunderte Gisela sich doch. Da schon etliche auch aus dieser Gegend in fremde Länder aufgebrochen waren, um dort ihr Glück zu suchen, wunderte sie sich, weshalb Walther ein Geheimnis daraus machte. Er fürchtete wohl, dass Gräfin Elfreda und deren Sohn alles tun würden, um zu verhindern, dass er Renitz verlassen konnte – es sei denn, völlig mittellos und ohne Papiere. Gisela fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie ihn nicht einfach gehen ließen, doch wie es aussah, wollten sie ihre Macht beweisen, indem sie ihn zu einem Leben zwangen, in dem sie ihn stets von neuem demütigen konnten. Da dies auch ihr drohte, fasste sie nach Walthers Arm.
»Wenn du gehst, nimm mich bitte mit«, flüsterte sie und wischte sich über die Augen, die bei dem Gedanken feucht geworden waren, Walther könnte Renitz ohne sie verlassen.
Doch schon im nächsten Moment wieder war ihr bewusst, dass das gar nicht möglich wäre. Ihrer Religion wegen konnte sie ja nicht sein Weib werden, aber vielleicht war er bereit, sie als seine Schwester auszugeben. Sie wagte nicht, ihn das zu fragen. Stattdessen wies sie ihn an, die Nähkammer zu verlassen.
»Ich habe noch einiges zu tun, wenn ich rechtzeitig fertig sein will. Vergiss aber nicht, um drei Uhr wieder hier zu sein. Ihre Erlaucht würde sehr zornig werden, wenn du nicht rechtzeitig zum Empfang der
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