Das Gottesgrab
plötzlich neben ihr stand.
«Nicht alle», gab sie zu. «Im Grunde …»
Er lachte, aber dieses Lachen war irgendwie sanfter, freundlicher und echter. Er bückte sich und öffnete die untere Kommode. Drahtgestelle quollen über mit grauen und gelbbraunen Ordnern voller loser Blätter. Notizbücher und Journale waren zu separaten Haufen aufgestapelt. Er zog einen dicken grünen Ordner hervor und reichte ihn ihr. «Kennen Sie das Siwa-Manuskript? Die Geschichte unserer Oase wurde aufgeschrieben seit …» Er winkte ab, als wollte er sagen, seit jeher. «Diese Notizen in roter Schrift sind von mir. Ich denke, sie werden Ihnen sehr nützlich sein.» Er legte den Ordner weg und widmete sich wieder seinen Büchern. «Ach, genau. Ahmed Fakhry. Ein großartiger Mann. Mein Mentor und ein sehr lieber Freund. Haben Sie seine Arbeiten gelesen?»
«Ja.» Es war die einzige Recherche, die sie bisher geschafft hatte.
«Ausgezeichnet. Aha. Und dies hier. W. G. Brownes Reisen nach Afrika, Ägypten und Syrien vom Jahre 1792 bis 1798 . Der erste Europäer seit Jahrhunderten, der Siwa besucht hat – oder zumindest darüber geschrieben hat. Er hielt uns für böse, schmutzige Menschen. Wir warfen Steine nach ihm, weil er vorgab, ein redlicher Mann zu sein. Zum Glück hat sich die Welt seither weiterentwickelt. Hier ist Belzoni. Und Friedrich Hornemann. Ein Deutscher, aber er schrieb auf Englisch. Sein Bericht wurde von der Afrikanischen Gesellschaft in London unterstützt. Das war im Jahre, lassen Sie mich schauen, ja, siebzehnhundertachtundneunzig.»
«Haben Sie auch aktuellere Texte?»
«Natürlich, natürlich. Viele Bücher. Kopien jedes Ausgrabungsberichts. Aber glauben Sie mir, als diese Leute in früheren Zeiten hier waren, waren unsere Monumente und Grabmäler in einem wesentlich besseren Zustand. Heute ist von vielen nur noch Staub und Sand übrig geblieben. Mein Name ist Ozymandius, König der Könige. » Er seufzte und schüttelte traurig den Kopf. «So viel ist verloren. Sie lesen auch Deutsch, ja?»
«Ja.»
«Gut. Man weiß ja nie. Selbst namhafte Universitäten scheinen heute die Doktorwürde an Leute zu verleihen, die kaum ihre eigene Sprache beherrschen. Hier haben wir J. C. Ewald Falls Siwa: Die Oase des Sonnengottes in der Libyschen Wüste . Cailliauds Voyage à Meroë , das müssen Sie lesen. Und diesen verbrecherischen Drovetti! Ich musste nach Turin reisen, um den Kanon der Könige zu sehen. Turin! Noch schlimmer als Kairo. Man wollte mich dort mit einer Straßenbahn überfahren!»
«Wann können wir anfangen?», fragte Elena.
«Wann möchten Sie denn?»
«Sofort.»
«Sofort!», lachte Aly. «Ruhen Sie sich nie aus?»
«Wir haben nur zwei Wochen.»
«Heute geht es leider nicht mehr», sagte Aly. «Ich hab noch etwas vor. Aber ich bin Frühaufsteher. Ab sieben Uhr sind Sie jederzeit willkommen.»
«Danke.»
VI
Rick und Knox schlichen sich von der dem Wind abgewandten Seite an, damit der Schäferhund sie nicht wittern konnte. Es dauerte neunzig Minuten, bis die Wachen wieder ihre Runde drehten. Sobald sie weg waren, lief Rick über die Lichtung weiter zu dem kleineren Gebäude. Er untersuchte die beiden schweren Vorhängeschlösser, zog einen mit Haken versehenen dicken Stahldraht aus seiner Tasche und öffnete damit geschickt die Schlösser.
«Wo hast du das denn gelernt, verdammte Scheiße?», murmelte Knox.
«Australische Spezialeinheit, Kumpel», grinste Rick, steckte die Schlösser ein und schob Knox in das Gebäude. «Das ist kein Häkelklub.» Im Boden war ein tiefes Loch, an eine Wand war eine Holzleiter gebunden. «Bis zur anderen Ausgrabungsstätte sind es sechzehn Minuten», sagte Rick. «Ich habe die Zeit gemessen. Sechzehn weitere für den Rückweg macht insgesamt zweiunddreißig. Wir müssen in maximal fünfundzwanzig Minuten wieder raus sein. Okay?»
«Beeilen wir uns», sagte Knox. Sein Herz pochte, als er hinunterstieg. Die Leiter quietschte, hielt ihn aber, und bald hörte er Steinscherben unter seinen Füßen knirschen. Einen Augenblick später war Rick neben ihm. Sie gingen den schmalen Gang entlang. Rick leuchtete mit der Taschenlampe auf eine Wandmalerei. «Himmel!», murmelte er. «Ich dachte, Wolfman gibt es nur in den Marvel- Comics.»
«Das ist nicht Wolfman», korrigierte Knox. «Das ist ein Wolfgott. Wepwawet.»
Rick schaute ihn verwundert an. «Was ist los?», fragte er. «Hast du ein Gespenst gesehen?»
«Nicht ganz.»
«Was dann? Weißt du, wo wir hier sind,
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