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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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beides.«
    Während Oliver Shostak sich über den Rand der
Retemperierungswanne aus rostfreiem Stahl ins 45° warme Wasser
senkte, dachte er unwillkürlich, nahezu zwangsläufig, an
eine andere, frühere Ikone der weltlichen Aufklärung,
Jean-Paul Marat, der jeden Tag im Badezuber gesessen, seine
Hautkrankheit erduldet und vom Untergang der Aristokratie
geträumt hatte. In Olivers Schulter pochte es, ebenso hatte er
Beschwerden der Rippen, doch das ärgste Weh litt seine Seele.
Ähnlich wie Marats Revolution hatte auch Olivers Aktion ein
unerfreulich mißratenes Ende genommen. Im Moment verspürte
er nur einen vorrangigen Wunsch, der sowohl die Hoffnung, er
könnte endlich zu schlottern aufhören, wie auch die
Begierde nach einem Wiedersehen mit Cassie übertraf,
nämlich die Sehnsucht, lieber tot zu sein.
    »Für Sie gilt eine überaus günstige
Prognose«, erklärte ihm jedoch Dr. Carminati, ging neben
der Wanne in die Hocke. »Aber halten Sie sich ruhig, ja? Wenn
Sie sich zuviel bewegen, fließt das Blut in Ihre
Extremitäten, kühlt ab und senkt wieder Ihre
Körpertemperatur, und dadurch wäre eine letale
kardiale Arrhythmie zu befürchten.«
    »Letale kardiale Arrhythmie«, wiederholte Oliver dumpf.
Seine Zähne ratterten wie Kastagnetten. Eine sehr
erstrebenswerte Aussicht.
    »Ihr Kilokaloriendefizit beträgt zur Zeit wahrscheinlich
um die tausend, aber ich sage voraus, daß es kein
Stündchen mehr dauert, bis wir Ihre Körperinnentemperatur
normalisiert haben. Danach fliegt ein isländischer
Luftrettungshubschrauber Sie zur stationären Beobachtung in die
Reykjaviker Klinik.«
    »War das wirklich Gottes Leichnam, was die Valparaíso im Schlepptau hatte?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Gottes Leiche?«
    »Ja.«
    »Kaum zu fassen.«
    »Vor drei Monaten ist in meinen Armen der Erzengel Gabriel
gestorben«, sagte der junge Arzt und schickte sich zu gehen an.
»Seitdem halte ich praktisch alles für
möglich.«
    An beiden Seiten der Wanne quoll Dampf empor, trübte die
Sicht auf die Unterkühlungsopfer, die rechts und links von
Oliver in Wannen aufgereiht lagen. Auf der Maracaibo gab es
eine so effiziente Krankenversorgung, daß man sie nach der
Beförderung auf den Golf-Tanker allesamt unverzüglich
behandelt hatte: Schultern waren wiedereingerenkt, Rippen verbunden,
Knochenbrüche eingegipst, Verbrennungen eingesalbt, Wunden
desinfiziert, Lungen mit feuchter Warmluft aus einem erhitzbaren
Beatmungsgerät beatmet worden. Keine egal wie wirksame
Behandlung jedoch konnte die Gestalt mit dem weggebrannten Gesicht,
die kurz nach dem Anbordgebrachtwerden auf einer Bahre vorbeigefahren
wurde, zum Leben wiedererwecken. Oliver erinnerte sich daran,
daß er und der Tote in der Taverne Zum Nordlicht mehrmals ins
Gespräch gekommen waren, wußte allerdings beim besten
Willen nicht mehr, um was die Unterhaltung sich gedreht hatte.
Für Oliver blieb er bloß ein anonymer, überbezahlter
Militärdrama-Aktivist, der gegenwärtig die letzte Rolle
spielte, nämlich die Leiche Leutnant George Gays.
    Nach zwanzig Minuten war es Oliver merklich wärmer, an seiner
trostlosen Stimmung dagegen änderte sich nichts. Im Dampf
erschienen die Umrisse einer Frau. Charlotte Corday kam, phantasierte
er, um Marat zu erstechen. Oliver hatte Jacques-Louis Davids
Gemälde stets bewundert. Aber statt eines Dolchs hatte sie nur
ein Digitalthermometer in der Hand.
    »Hallo, Oliver. Wie schön, dich wiederzusehen.«
    »Cassandra?«
    »Ich soll deine Temperatur messen«, antwortete sie, trat
aus den Dunstschwaden.
    »Hör zu, Liebling, ich habe alles versucht. Wirklich
alles, alles.«
    Cassie beugte sich über die Wanne und schmatzte ihm ein
flüchtiges, neutrales Küßchen auf die Wange.
»Das ist mir klar«, entgegnete sie im Tonfall
herablassender Dankbarkeit. Sie hatte ein verhärmtes Gesicht,
ihr Auftreten bezeugte Bedrückung und Einschüchterung, und
ohne Zweifel hinterließ er bei ihr einen gleichartigen Eindruck
des Niedergeschlagenseins. Und dennoch hatte er sie, wie sie da neben
ihm stand und am Thermometer die kleine, grüne Taste
betätigte, noch nie als schöner empfunden.
    »Ich habe alles versucht«, beteuerte Oliver noch einmal.
»Du mußt mich richtig verstehen… Ich hätte nicht
im Traum daran gedacht, daß Spruance es darauf anlegt, den
Tanker zu torpedieren.«
    »Ich will ganz offen sein«, gab Cassie zur Antwort,
schob ihm das Thermometer in den Mundwinkel. »Ich bin sofort der
Meinung gewesen, daß du die falschen Leute

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