Das Gottesmahl
wiederholte Anthony, schob ihm den
Strohhalm wieder zwischen die Lippen. »Du hast endlich dein
Privatparadies. Hast du kapiert?«
»Zu sterben ist wirklich Scheiße. Ehrlich, ich kann dem
nix abgewinnen. Wäre wenigstens Tiffany da…«
Anthony holte Rafaels Feder aus dem Rucksack und hielt sie dem
Alten vor die Augen; die Spitze zitterte im Wind. »Hör zu,
Vater. Weißt du, was das für eine Feder ist?«
»Eine Feder.«
»Was für eine?«
»Ist doch schnuppe. Von ’m Albatros.«
»Sie stammt von einem Engel, Vater.«
»Sieht aus wie von ’m Albatros.«
»Ich habe meinen Auftrag von einem Engel erhalten.
Einem Engel mit Flügeln, Heiligenschein, allem Drumherum. Das
Schleppgut, das ich am Schiff hängen hatte, war keine
Filmrequisite, sondern Gottes Leiche.«
»Nein, ich bin die Leiche, schon so gut wie ’ne
Leiche, völlig hin bin ich. Du hast die Brücke verlassen.
Tiffany ist ’ne echte Wuchtbrumme, wie? Was sie wohl an mir
findet… Die Hälfte der Zeit macht mein Vordersteven gar
nicht mehr mit.«
»Ich erledige meine Aufgabe. Ich schaffe unseren
Schöpfer in sein Grab.«
»So richtig verstehe ich nicht, was du da redest, mein Junge.
Es ist komisch, derartig eingeklemmt zu sein und nichts zu
spüren. Engel? Schöpfer? Was soll das?«
»Ich bin bereit, alles gut sein zu lassen, was du mir angetan
hast, die Schweinerei am Erntedankfest, die Sache mit der Constitution, alles.« Anthony zog die Handschuhe aus,
streckte seinem Vater die bloßen Hände entgegen. »Du
brauchst nur zu sagen, du bist stolz, weil man mich mit dem Auftrag
betraut hat. Sag mir, du bist stolz und der Überzeugung,
daß ich ihn ausführe und daß ich an die Havarie
nicht mehr denken soll.«
»Constitution?«
Anthony streifte die Handschuhe wieder über, weil sich unter
seinen Fingernägeln Eis bildete. »Schau mich an. Sag zu
mir: ›Denk nicht mehr an die Havarie.‹«
»Was ist denn das für ’ne dämliche
Sterbestunde, die ich hier erlebe?« Als ob aus einem
unterirdischen Reservoir Rohöl heraufsickerte, füllte Blut
den Mund des Alten, vermischte sich mit dem Wein; seine Worte
gurgelten durch die Flüssigkeit. »Genügt’s nicht,
daß ich die Schleppketten zerschossen hab? Reicht’s
nicht?« Tränen kamen ihm, rannen über die nackten,
weißen Wangenknochen. »Ich weiß nicht, was du
willst, Junge. Constitution? Engel? Genügen dir die
zerschossenen Ketten nicht?« Auf dem Kinn gefroren die
Tränen. Heftig schüttelte es Christoph van Horne;
ungefühlte Schmerzen durchbebten seinen Körper.
»Übernimm sie, Anthony.« Er packte den Rand des
Ventil-Kurbelrads und versuchte es zu drehen, als befände er
sich wieder im Jahre 1954, wäre er noch Pumpenmann und auf dem
Wetterdeck der Texaco Star tätig. »Übernimm du
das Schiff.«
Die schiere Aussichtslosigkeit der Situation, die morbide Komik
des Ganzen, rang Anthony ein spöttisches Lächeln ab, ein
Schmunzeln, wie man es zuvor beim Schöpfer gesehen hatte. Zum
erstenmal überhaupt bot sein Vater ihm etwas an, das er ihm
anschließend bestimmt nicht entzog, weil er es nicht mehr
konnte… Nur hatte das Angebot einen kleinen Haken.
»Du hast keine Berechtigung zum Abtreten des Schiffs«,
stellte Anthony fest.
»Sieht der Jantje Abendrot, hat des Nachts er keine
Not…« Der Alte schloß die Lider. »Wird er
Morgenrot gewahr, wittert er nahbei Gefahr…«
»Sag mir, daß die Matagorda-Bucht vergeben ist.
Daß die Silberreiher mir verzeihen. Sag’s.«
»Anker, Kreuz und flammend Herz… erzählen von des
Sailors Schmerz… Sieht der Jantje Abendrot… hat des Nachts
er keine Not… keine Not… keine Not…«
Und dann sah Anthony mit einem Gefühl abgrundtiefer,
unbeschreiblicher Genugtuung seinen Vater einatmen, lächeln,
Blut spucken und sterben.
»Möge er in Frieden ruhen«, wünschte
Weisinger. Anthony richtete sich auf, die Feder in der Hand.
»Allzu gut habe ich ihn nicht gekannt«, fügte der
Vollmatrose hinzu, »aber er war ein großartiger Mann,
soviel ist mir klargeworden. Sie hätten mal dabei sein sollen,
als die Flieger die Valparaíso angegriffen haben.
›Diese Leute wollen meinen Sohn umbringen!‹ hat er immerzu
geschrien.«
»Nein, er war kein großartiger Mensch.« Anthony
steckte Rafaels Feder in die oberste Tasche des Parkas, genoß
die Empfindung schwacher Wärme, die sie in die Herzgegend
ausstrahlte. »Ein ausgezeichneter Seemann war er, aber kein
großartiger Mensch.«
»Die Welt braucht beides, glaube ich.«
»Ja, die Welt braucht
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