Das Gottesmahl
Momentan warte ich noch darauf, daß
ich etwas fühle.«
»Trauer?«
»Irgend etwas eben. Vor seinem Tod hatten wir noch ein paar
gemeinsame Minuten.«
»Habt ihr über die Matagorda-Bucht gesprochen?«
»Er war mit Morphium abgefüllt… Es hatte keinen
Zweck. Aber selbst wenn er mich verstanden hätte, wäre es
ihm unmöglich gewesen, mir zu helfen. Mein Auftrag ist ja
unerledigt. Das Grab ist noch leer.«
»Lianne hat mir erzählt, der Vatikan will den Leichnam
verbrannt haben.«
»Hat sie auch erzählt, daß wir die Fahrt morgen
fortsetzen?«
»Nach Kvitöi?«
»Jawohl.«
»Ich säh’s lieber, du würdest dir’s
anders überlegen«, bekannte Cassie in ruhigem Ton. Ein
Ausdruck eigentümlich attraktiven, weil sonderbar sinnlichen
Zorns verzog ihre Miene. »Die Engel sind tot. Dein Vater ist
tot. Gott ist tot. Es ist niemand mehr da, dem du etwas beweisen
müßtest.«
»Ich bin noch da.«
»Scheiße…«
»Cassie, Liebste, wenn die Katholische Kirche und die
Philosophische Liga für moderne Aufklärung auf einmal
dasselbe Ziel verfolgen, gibt eine so merkwürdige Entwicklung
nicht auch dir zu denken?«
»Damit kann ich leben. Verbrenn den Spasti, mein Schatz. Die
Frauen der Welt werden dir dafür dankbar sein.«
»Ich habe Rafael ein Versprechen gegeben.«
»Soweit ich gehört habe«, wandte Cassie ein,
»schickt Rom weitere Golf-Tanker, wenn du nicht nach dem Willen
des Vatikans verfährst. Sicherlich möchtest du doch kein
zweites Mal torpediert werden, oder?«
»Nein, Cassie, selbstverständlich nicht.« Anthony
kehrte sich dem Wrack zu, hob das Fernglas an die Augen und stellte
es scharf. »Natürlich könnte ich dem Papst einfach ein
Fax mit der Behauptung schicken, der Corpus Dei sei in Brand
gesetzt worden.«
»Ja, könntest du…«
»Aber ich tu’s nicht«, erklärte Anthony mit
Nachdruck. »Auf dieser Reise sind genug Lug und Trug
vorgefallen.« Schwarze Wogen rollten übers Wetterdeck der Valparaíso, drängten Treibeisbrocken gegen die
Aufbauten. »Cassie, ich schlage dir ’nen Kompromiß
vor. Falls uns zwischen hier und Svalbard eine Vatikan-Flotte
abfängt, liefere ich ihr die Fracht ohne Gegenwehr
aus.«
»Ohne Schlachtgetümmel?«
»Kampflos.«
Cassie bewegte den Mund, zwang die vor Kälte starren Muskeln
zum Lächeln. »Das glaub ich erst, wenn’s soweit
ist.«
Mit dunklem Gurgeln und unirdischem Stöhnen geriet die Valparaíso ins Kreiseln, drehte sich von Nord nach Ost,
von Süd nach West, immerzu rundherum, der Bug sank steil ins
Meer, wühlte den Ostgrönland-Strom zu einem schaumigen
Strudel auf, während sich das zehn Tonnen schwere Ruder, die wie
Windmühlen bemessenen Ferris-Schiffsschrauben und der
mammuthafte Kiel sich in die Luft emporschwangen. Deckspassage um
Deckspassage, Fenster- um Fensterreihe ging das Schiff unter,
Kabinen, Kombüse, Offiziersmesse, Steuerhaus, Schornstein,
Masten, Vatikanflagge, alles verschwand im Mahlstrom wie im Maul
eines zu unvorstellbarer Größe mutierten Barschs, die
Bullaugen schimmerten hell noch unterm Wasserspiegel.
»Adieu, altes Mädchen.« Zum Abschied
grüßte Anthony mit der Hand an der Mütze und
ließ gehörig Salut schießen. »Du wirst mir
fehlen«, rief er über die mit Eis nahezu verstopfte See.
Tölpel kreischten, der Wind heulte, mit einem Schmatzen
schlossen sich die nassen Kiefer der Fluten. »Du warst von allen
die Beste«, beteuerte der Kapitän, während das Schiff
die letzte Fahrt antrat, zwar langsam, aber unaufhaltsam von der
gischtigen Oberfläche der Norwegischen See in die
Tintenschwärze des Grönländischen Beckens hinabglitt,
fünftausend Faden tief.
Das Gesicht des Corpus Dei schwelte noch, als die Maracaibo ihn erreichte, Rauch quoll in dichten,
schwärzlichen Fahnen von den Backen empor und wehte
nordwestwärts zur Jan-Mayen-Insel. Tausende von Bartstoppeln
bedeckten das verkohlte, hautlose Fleisch der eingefallenen Wangen,
rings um die vereisten Lippen mit dem erstarrten Lächeln,
verliefen wie die Skeletten ähnlichen Stümpfe eines
Waldbrands bis hinauf zu den Ohren. Gott war, sah Anthony, so bartlos
wie er geworden.
Obwohl es an Offizieren und Besatzung Überschuß gab,
brauchte die Maracaibo den ganzen Tag, um die abgetrennten
Ketten aus dem Meer zu bergen, sie ums Deckhaus zu winden und
zusammenzuhaken. »Voraus langsame Fahrt«, befahl Anthony.
Die Ketten strafften sich, schabten lautstark ums Deckhaus, doch die
Befestigung hielt, der Corpus Dei gelangte in Bewegung. Um 18
Uhr
Weitere Kostenlose Bücher