Das Gottesmahl
30 erteilte der Kapitän den Befehl »Voraus volle
Fahrt!«, trank seit dem Auslaufen in New York seine
vierhundertsechsundzwanzigste Tasse Kaffee und ließ Kurs auf
den Nordpol nehmen.
Die Karpag Maracaibo war Anthony nicht sympathisch. Mit
Mühe und Not konnte er ihr 5 Knoten abringen; er bezweifelte,
daß sie, selbst wenn das Gewicht des geladenen Öls gefehlt
hätte, mehr als 6 Knoten gelaufen wäre. Der Tanker hatte
keine Seele. Die Erzengel hatten gewußt, was sie taten, als sie
sich für die Valparaíso entschieden.
Am selben Abend, als die Schlepptätigkeit von neuem
aufgenommen wurde, zog Cassie in Anthonys Kabine, dank der auf
28° gebrachten Warmluft, die Crock O’Connor pflichtgetreu
aus dem Maschinenraum nach oben leitete, ein auf erotische Weise
quasitropisches Ambiente.
»Ich würde gern etwas wissen«, gestand Cassie,
während sie Anthonys nackte Gestalt zur Koje führte.
»Wenn unser Plan mit der Midway-Reinszenierung geklappt
hätte und Gott versunken wäre, hättest du mir
verziehen?«
»Das ist ’ne unfaire Frage.«
»Stimmt.« Sie stülpte ihm ein bedrucktes
Supersensitiv-Kondom über, das Standarte-Design, auf dem Markt
– noch vor dem Klapperschlangen-Motiv – der Renner des
führenden Kondomherstellers Shostak. »Und wie lautet die
Antwort?«
»Wahrscheinlich hätte ich dir niemals verziehen«,
sagte Anthony, weidete sich am Anblick des Schweißrinnsals, das
zwischen ihren Brüsten wie ein Bach durch eine Schlucht
floß. »Mir ist klar, daß das nicht die Antwort ist,
die du gerne hören möchtest, aber…«
»Es ist die Antwort«, unterbrach ihn Cassie, »die
ich erwartet habe.«
»Nun muß ich dir eine Frage stellen.«
Anthony zupfte mit dem Mund an ihrem Ohrläppchen, schleckte
daran mit der Zunge. »Mal angenommen, es ergäbe sich
’ne zweite Gelegenheit, um die Fracht zu vernichten.
Würdest du sie nutzen?«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Du brauchst nicht sofort zu antworten.«
Cassie lachte und strich das Kondom glatt. »Wundert dich
das?«
»Eigentlich nicht…« Anthony seufzte. Er wälzte
sich auf Cassie und umfaßte ihre Brüste, als wäre er
Jehova, der die Anden formte. »Du bist eine Frau mit Prinzipien,
Cassie. Genau das schätze ich an dir so sehr.«
Am folgenden Morgen, während Cassie dabei half, Eis vom
Mittellaufsteg abzuhacken, Anthony in der Koje lag und im
Popeye-Notizbuch den Untergang der Valparaíso schilderte, Seite um Seite mit zorniger Klage füllte,
tönte plötzlich ein Klopfen durch die Kabine. Anthony
sprang von der Matratze auf und öffnete die Tür. Crock
O’Connor trat ein; ihn begleitete der spindeldürre Wicht
Vince Mangione, der einen Messingvogelkäfig hereinschleppte, ihn
auf gleicher Höhe zu seinem Gesicht trug, als ob er in mondloser
Nacht mit einer Sturmlaterne umhertappte.
In dem Käfig saß auf einer Schaukelstange ein Papagei,
lauste sich in der Absicht, Milben zu knacken, mit kurzen
Schnabelstößen unter den Flügeln. Der Vogel drehte
den knallroten Kopf und richtete den Blick auf Anthony. Seine
Äuglein glichen kleinen, eingeölten Ohrringen.
Zunächst dachte Anthony, es ’hätte irgendeine
Auferstehung stattgefunden, denn die Ähnlichkeit zwischen diesem
Ara und Dolly, dem Haustier seiner Kindheit, war geradezu unheimlich;
erst bei genauerem Hinsehen gewahrte er, daß dieser Vogel nicht
Dollys Erkennungszeichen aufwies, den eigenartigen
Stundenglasumriß auf dem Schnabel und die winzige,
unregelmäßige Narbe an der rechten Klaue.
»Ihr Vater hat ihn kurz vorm Auslaufen in Palermo
gekauft«, erklärte Mangione, stellte den Käfig auf die
Koje.
»Im Maschinenraum war er wegen der dampfigen Luft bestens
aufgehoben«, sagte O’Connor. »Aber in Ihrer Kabine ist
er bestimmt genauso gut untergebracht.«
»Schaffen Sie ihn hinaus«, entgegnete Anthony.
»Was?«
»Ich will nichts haben, das meinem Vater gehört
hat.«
»Sie mißverstehen uns«, antwortete Mangione.
»Er hat mir gesagt, daß der Vogel ein Geschenk
ist.«
»Ein Geschenk?«
Trotz der Demütigung am Erntedankfest, der eingeglasten Constitution, der böswilligen Vernachlässigung
– ungeachtet aller Anlässe zum Groll – fühlte
sich Anthony nun gerührt. Endlich erhielt er ein Zeichen des
Wiedergutmachungswillens seines Vaters, einen Ausgleich für das
Geschenk, das er dem Sohn vor vierzig Jahren fortgenommen hatte.
»Wir wissen nicht«, teilte O’Connor ihm mit,
»ob Ihr Vater ihm schon ’n Namen gegeben hat.«
»Wie rufen denn Sie
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