Das Gottesmahl
Kartenspiel
entartet zur blutigen Schlägerei. An den Schotts tauchen
schneller Graffiti auf, als ich ihre Entfernung per
Sandstrahlgebläse anordnen kann: JESUS WAR EIN EGOWIXER und
Schlimmeres. (Ich bin kein allzu frommer Mensch, aber solchen Dreck
dulde ich auf meinem Schiff nicht.) Dauernd rauchen die Matrosen in
der Nachbarschaft der Ladungstanks und verstoßen damit gegen
das oberste Sicherheitsgebot eines Öltankers.
Marbles Rafferty hat mir mitgeteilt, es vergeht keine Stunde, ohne
daß jemand an seine Tür klopft und einen Diebstahl meldet.
Brieftaschen, Kameras, Radios, Messer.
Unserem Bootsmann mußte ich ins Gesicht sagen, daß er
entweder das Saufen einschränkt oder ich ihn in Eisen legen
lasse. Und was macht der Idiot heute früh? Knallt sich die
Rübe zu und demoliert im Pausenraum den Flipperautomaten, so
daß ich mich gezwungen sah, ihn im Bau zu bunkern.
Vollmatrose Karl Jaworski hat darauf bestanden, er hätte
Isabel Bostwick ›nur einen kameradschaftlichen
Gutenachtkuß gegeben‹: Danach habe ich mir die Darstellung
der Frau angehört, einer Angehörigen der Putzkolonne, und
sie hat mir ihre Prellungen und Platzwunden gezeigt. Später
haben sich zwei weitere Frauen über Jaworski beschwert und
ähnliche Mißhandlungsspuren vorgewiesen. Ich habe ihn in
die Zelle neben Wheatstone gesperrt.
Bis vor 48 Stunden war auf einem Schiff, das unter meinem Kommando
steht, noch nie jemand ums Leben gekommen.
Aber diesmal: Vollmatrose Leo Zook. Der arme Hund hat beim
Reinigen von Zentraltank Nr. II eine tödliche Dosis
Kohlenwasserstoffgas eingeatmet. Das eigentlich erschreckende ist
allerdings folgendes: An seinem Atemschutzgerät ist der Schlauch
zerschnitten worden, und als Rafferty unten im Tank nach dem rechten
sah, hockte Zooks Kollege Neil Weisinger – der mutige junge
Bursche, der sich während des Hurrikans Beatrice am Steuerrad so
glänzend bewährt hat – neben der Leiche und hatte ein
Schweizer Armeemesser in der Hand.
Wenn ich Weisinger durch die Zellentür frage, was passiert
ist, lacht er nur.
»Der Leichnam übt seine Wirkung aus«, erklärt
Ockham die Situation. »Nicht der Leichnam per se, sondern
der Gedanke daran – er ist unser Widersacher, der
Ursprung dieser Unordnung. In allen bisherigen Zeiten« – so
der Pater – »hat jeder, ob Gläubiger,
Nichtgläubiger, konfuser Agnostiker, auf gewisser Ebene
gespürt, daß Gott auf ihn ein Auge hat, und dies Empfinden
hat ihn zur Mäßigung angehalten. Aber nun bricht eine
völlig neue Ära an.«
»Eine völlig neue Ära?« Da war ich erst einmal
baß erstaunt.
»Wir leben jetzt Anno Postdomini Eins«, gab er zur
Antwort.
Der Gedanke an den Leichnam. Anno Postdomini Eins. Bisweilen
glaube ich, Ockham täuscht sich, dann wieder neige ich zu der
Auffassung, daß er völlig recht hat. Die Lage gefällt
mir überhaupt nicht. Das Treiben der Besatzung verursacht mir
echte Bauchschmerzen, zumal wir Seine Halsschlagader noch nicht
angezapft haben und es ringsum nur so von Haien wimmelt. Aber welche
Alternativen bieten sich mir? Ich habe die Befürchtung, wir sind
zu einem Seuchenschiff geworden, Popeye, daß die Fracht sich
mit Sporen und Keimen in uns festgesetzt hat, und ich bin mir nicht
mehr sicher, wer eigentlich wen im Schlepp hat.
Tiefe Reue bewegte Thomas Ockhams Gemüt, während er,
bekleidet mit seiner Levi-Strauss-Jeans und dem FermiLab-Sweatshirt,
die schmale Leiter zum Bordgefängnis der Valparaíso hinabstieg. So hätte er, sah er ein, sein Leben stets
führen sollen – ohne Priesterkragen, unter den Verworfenen
und Eingekerkerten, als Freund der Ausgestoßenen dieser Welt.
Jesus hatte keine Zeit mit Spintisieren über Superstrings oder
eine ohnehin niemals ergrübelbare Vereinigungstheorie
verplempert. Der Herr war hingegangen, wo man ihn benötigte.
Noch unter dem Pumpen-, selbst unter dem Maschinenraum befanden
sich die Gefängniszellen in einem dämmerig-düsteren
Steuerbordgang, den Unmengen eingeschlauchter Kabel und von
Schwitzwasser feuchter Rohre durchzogen. Thomas mußte in
geduckter Haltung vorwärtstappen. Zu sehen waren die drei
Gefangenen nicht, sie schmachteten hinter aus alten Kesselwandungen
verschraubten Stahltüren. Langsam, stockenden Schritts tappte
der Geistliche an der Reihe Zellen vorüber, am Vandalen
Wheatstone und am Lüstling Jaworski, blieb vor der Zelle des
Falls stehen, den er als am beunruhigendsten empfand: Vollmatrose
Neil Weisinger.
Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte Thomas
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