Das Grab des Herkules
Löwentatzen.
Die dahinterliegenden schmalen Gänge waren tatsächlich labyrinthisch. Nina hatte sich den Weg jedoch bereits notiert und brauchte bei jeder Wegkreuzung nur nachzusehen, ob sie sich nach links oder rechts wenden mussten. Was passierte, wenn sie zufällig den falschen Weg wählten, wagte Nina sich kaum vorzustellen. Und ihre Überlegungen behielt sie wohlweislich für sich, damit Sophia oder Corvus nicht womöglich Chase vorausschickten.
Unterwegs trafen sie auf weitere Aufgaben, auf stilisierte Statuen, die mitten im Angriff erstarrt waren, als die Grabräuber der Vergangenheit die Stoppvorrichtung betätigt hatten. Andere Statuen blockierten das Ende der jeweiligen Kammer, nachdem sie die Eindringlinge, welche die Arbeit nicht bewältigt hatten, getötet hatten. Da die Fallen nicht wieder in den Ausgangszustand zurückversetzt worden waren, ging keine Gefahr von ihnen aus – was die Expeditionsteilnehmer jedoch nicht davon abhielt, jede einzelne Falle mit äußerster Vorsicht zu untersuchen. Für alle Fälle.
Die Lernäische Hydra hatte sieben Schlangenköpfe und in der Vergangenheit drei Eindringlinge mit vergifteten Pfeilen getötet; im Todeskampf hatten sich die Grabräuber verkrümmt, und ihre Skelette lagen noch immer so am Boden, wie sie gestorben waren. Die steinernen Schlangenköpfe lagen zerbrochen daneben, die Statue war enthauptet worden. Das entsprach nicht der Überlieferung, doch Nina bezweifelte, dass die Erbauer des Grabes in der Lage gewesen waren, Metall und Stein zur spontanen Regeneration zu bewegen.
Die Kerynitische Hirschkuh hatte einen Grabräuber mit ihrem imposanten Eisengeweih aufgespießt, doch seinen Begleitern war eingefallen, dass Herkules dem Tier den Vorderlauf durchschossen hatte. Eines der Beine der Statue war tatsächlich beweglich gelagert und hatte dazu gedient, den Mechanismus zu deaktivieren – wenngleich die Taktik der Räuber, die das Bein so lange mit Steinen beworfen hatten, bis sie einen Treffer erzielt hatten, weit weniger eindrucksvoll war als Herkules’ Vorgehen in der Legende.
Die nächste Hürde: der Augiasstall. Dem Mythos zufolge hatte Herkules einen Fluss umgeleitet, um den Stall auszumisten, und auf der Landkarte auf der Rückseite der Pergamente war in der Nähe des Hügels tatsächlich ein kleiner Wasserlauf verzeichnet. Diese Aufgabe hatte eher Intelligenz als den Einsatz körperlicher Kraft erfordert, denn die Schleusentore mussten in einer bestimmten Reihenfolge geöffnet werden, um das Wasser in bestimmte Kanäle zu leiten. Beim kleinsten Fehler wurden die Räuber fortgespült – zwei zerschmetterte Skelette am Ende eines Wasserkanals veranschaulichten die Strafe für ihr Versagen. Der Wasserlauf aber war inzwischen längst versiegt, deshalb konnten die Expeditionsteilnehmer den Raum gefahrlos durchqueren.
Dann die Stymphalischen Vögel: Ein schmaler Gang führte steil nach oben. Die an der Decke befestigten Falkenstatuen waren auf Grabräuber herabgesaust und hatten mit ihren Krallen und scharfen Schnäbeln alles zerfleischt, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Zwei Vögel hatten das Ende der Rampe erreicht und waren mit solcher Wucht aufgeprallt, dass ihre Schnäbel in der Wand feststeckten – der eine hatte sich in die Brust eines der glücklosen Grabräuber gebohrt. Ein weiterer Falke lag auf dem ansteigenden Weg – der Befestigungshaken war von einem Pfeil zerstört worden. Selbst Komosa zeigte sich beeindruckt von der Handwerkskunst der Erbauer.
Die siebte Falle: Der Kretische Stier – ein Riese mit primitivster Angriffsmethode; er war in einem engen Gang vorgerückt und hatte alles zerquetscht, was ihm in die Quere gekommen war. Besiegt worden war er dadurch, dass man ihm Seilschlingen über die Hörner geworfen und ihn zu Boden gerissen hatte; ein paar staubtrockene Seilstränge waren noch erhalten.
Diese letzte Falle hatte zwei weitere Opfer gefordert; als sie den Stierkopf nach unten ziehen wollten, waren sie offenbar ausgerutscht und unter die gewaltigen Rollen geraten, die dem Stier als Fortbewegungsmittel dienten. Nina blieb stehen und untersuchte sie. »Diese Toten, offenbar Europäer, stammen aus neuerer Zeit«, erklärte sie. »Die Kleidungsreste deuten aufs fünfzehnte oder sechzehnte Jahrhundert hin. Auch ein gescheiterter Versuch, die Falle zu überwinden, ebnet den nachfolgenden Grabräubern den Weg.«
»Dann sollte also auch die nächste Falle bereits ausgelöst worden sein«, meinte Corvus, als
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