Das Grab des Herkules
die Arme in die Hüften und nahm vor ihm Aufstellung. »Geht es um uns?«
»Mit uns hat das nichts zu tun«, erwiderte Chase ernst. »Es hat sich etwas ergeben, was ich für sicherheitsrelevant hielt; Amoros war derselben Ansicht, und jetzt fliege ich nach Shanghai, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Weshalb du? Warum nicht jemand anders? Und warum kann sich nicht jemand um die Sache kümmern, der sich bereits in Shanghai aufhält?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Darfst du nicht, oder willst du nicht?«
Ohne sie anzusehen, schloss Chase den Reißverschluss der Reisetasche und schob Pass und andere Dokumente in die Innentasche seiner Lederjacke. »Ich muss los.«
»Wie lange wirst du wegbleiben?«
Chase zuckte mit den Schultern. »Solange ich eben brauche.« Er wandte sich zur Tür, doch Nina verstellte ihm den Weg.
»Du haust Hals über Kopf ab und fliegst um die halbe Welt – und dann willst du mir nicht mal den Grund dafür sagen? Und da soll ich dir abnehmen, dass das nichts mit unseren gegenwärtigen Problemen zu tun hat?«
»Es ist mir egal, was du glaubst. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss arbeiten.« Chase zwängte sich an ihr vorbei und ging hinaus.
»Arschloch!«, fauchte Nina mit einem giftigen Blick auf die Wohnungstür, die sich gerade hinter ihm schloss. Mit geballten Fäusten trat sie vor das kubanische Souvenir, als wollte sie es auf den Boden fegen und zerschmettern, doch dann wandte sie sich ab und warf sich bebend vor Wut aufs Sofa.
3
Shanghai
C hases letzter Besuch in Shanghai lag über zwei Jahre zurück. Er war beeindruckt – wenn auch nicht überrascht – vom Ausmaß der Veränderungen in der Stadt. Die Skyline war kaum noch wiederzuerkennen. Wo man auch hinsah, überall waren neue Wolkenkratzer entstanden, und dazwischen ragten Baukräne auf, deren filigrane Silhouetten sich vor dem diesigen Himmel abzeichneten.
Die neuen Gebäude waren keine langweiligen Kästen wie im Westen der Stadt – die boomenden, kapitalkräftigen Shanghaier Firmen lieferten sich ein regelrechtes architektonisches Wettrüsten und wetteiferten um die höchste, coolste und spektakulärste Konzernzentrale. Alte chinesische Tempel waren vertikal auf über hundert Stockwerke gestreckt, daneben ragten funkelnde Türme, Korkenziehergebilde und bizarre organische Formen auf, die sich jeglicher Beschreibung entzogen. Überall leuchteten bunte Neonreklamen.
Das Gebäude, das Chases besonderes Interesse weckte, als das Taxi über eine Überführung an der Ostseite der Stadt fuhr, war nicht so hoch wie manche andere, aufgrund seiner Größe und seines Designs aber gleichwohl imposant. Die Zentrale von Ycom – gesprochen Jie-com – war etwa dreißig Stockwerke hoch. Die eine Seite des Gebäudes war eine senkrechte Fläche aus schwarzem Glas, die andere Seite war sanft geschwungen und erinnerte an eine Skateboardrampe. Das Dach war gespickt mit Sendemasten, alle neonbunt beleuchtet, und in der Mitte befand sich offenbar ein Hubschrauberlandeplatz.
Ycom gehörte zu Richard Yuen Xuans Firmenimperium.
»Na, Eddie, gefällt dir Shanghai noch?«, fragte die Frau, die das Taxi fuhr. Chao Mei wirkte jugendlich, und ihre zierliche Gestalt wurde durch die übergroße, jungenhafte Kleidung noch betont. Dabei war sie einige Jahre älter, als man meinte, und auch nicht so unschuldig, wie ihr Gesicht aussah, das sie gerne unter einer weichen, türkisfarbenen Baskenmütze verbarg: Chase wusste, dass ihre Familie seit Jahren in die nicht ganz legalen Geschäfte mit den Triaden verwickelt war.
»Ja, es sieht richtig cool aus. All die vielen Türme – allerdings kommt es mir so vor, als ginge es bei dem ganzen Gebaue vor allem darum, wer den Längsten und Dicksten hat.«
Mei kicherte. »Du machst ständig sexuelle Anspielungen, Eddie. Wenn das nicht wäre …« Sie tätschelte sich den Bauch. Ihre wattierte Jacke vermochte nicht zu verbergen, dass sie im siebten Monat schwanger war. »… dann hätten wir es endlich mal tun können, hmm?«
»Ja, der verfluchte Lo und seine gesegnete Fruchtbarkeit«, sagte Chase, der sich wohl bewusst war, dass sie nur scherzte. »Aber wahrscheinlich muss ich gleich die Stadt verlassen, wenn ich hier fertig bin.« Er senkte die Stimme. »Außerdem bin ich sozusagen liiert.«
»Tatsächlich?« Sie musterte ihn erfreut, aber auch ein wenig überrascht. »Schön für dich! Wie ist sie? Erzähl! Ist sie schön?«
»Augen auf die Straße, Mei«, sagte
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