Das Grab des Herkules
Chase mahnend und zuckte zusammen, als das Taxi von der Spur abkam und einem Bus gefährlich nahe kam.
Mei lenkte das Taxi wieder in die Spur, dann sah sie erwartungsvoll in den Rückspiegel.
Chase seufzte. »Ja, das ist sie.«
»Ich hab’s gewusst. Als ich Lo erzählt habe, dass du kommst, ist er richtig eifersüchtig geworden. Er wollte wissen, weshalb jemand mit deinem Gesicht bei schönen Frauen so gut ankommt.«
Chase schnaubte und rieb sich die flache, mehrfach gebrochene Nase. »Schon gut! Liegt wohl daran, dass ich ein so toller Hecht bin.«
»Das habe ich ihm auch gesagt! Und jetzt erzähl mir von ihr. Bist du verliebt?«
Die Skyline verschwand, als das Taxi in den Tunnel unter dem Fluss einfuhr, der die Stadt teilte.
»Ich … ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, wie es momentan um unsere Beziehung bestellt ist.«
Mei bedachte ihn im Rückspiegel mit einem mitfühlenden Blick. »Wie lange seid ihr schon zusammen? Ein Jahr, zwei?«
»Etwa anderthalb Jahre.«
»Ah!«
»Ah, was?«
»Das ist immer eine kritische Zeit«, erklärte Mei. »Der erste Rausch der Verliebtheit ist verflogen, und jetzt lernt ihr euch richtig kennen. Vielleicht findet ihr in dieser Phase auch Dinge über den Partner heraus, die euch weniger gefallen.«
»Das kann man wohl sagen«, brummte Chase unwillig.
»Lo und ich, wir haben das Gleiche durchgemacht«, fuhr Mei munter fort. »Er kann meine Hüte nicht ausstehen, und ich kann seinen Freund Fong nicht leiden, mit dem er diese PC-Spiele spielt, ätsch!«
»Aber ihr habt euch arrangiert?«
Sie bedachte ihn mit einem sarkastischen Blick und tätschelte sich erneut den Bauch. »Sieht so aus, oder?«
Chase musste unwillkürlich lachen.
»Wenn man jemanden wirklich liebt«, fuhr Mei fort, »wenn man füreinander bestimmt ist, wenn es sich lohnt, dafür zu kämpfen, dann merkt man das auch.«
»Das behalte ich im Hinterkopf«, sagte Chase, der gerne das Thema gewechselt hätte. Als das Taxi auf der Westseite der Stadt aus dem Tunnel kam, betrachtete er schweigend die Wolkenkratzer.
Das Grand Theatre von Shanghai war ein ultramoderner Stahl- und-Glas-Bau an der Westseite des Volksparks. Mei hielt vor dem Gebäude. »Okay, wir sind da. Hast du alles?«
»Mein Ticket hab ich«, sagte Chase und hielt es hoch.
»Tut mir leid, dass ich dir keinen besseren Platz besorgen konnte. War ein wenig kurzfristig.«
»Ich bin nicht hergekommen, um einen fetten Kerl singen zu hören«, rief er ihr mit einem Grinsen in Erinnerung.
»Wie wär’s, wenn wir ein Zeichen verabreden würden, für den Fall, dass ich dich rausholen soll?«
»Halt einfach die Augen offen. Du wirst schon merken, wenn es so weit ist.«
Mei runzelte die Stirn. »Eddie, bitte spreng das Grand Theatre nicht in die Luft. Ich mag das Theater, ich hab hier Les Miserables gesehn.«
»Klingt eigentlich eher wie ein guter Vorwand, das Ding in die Luft zu jagen!«
Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.
»Okay, okay , ich verspreche dir, dass ich das Gebäude nicht in Schutt und Asche legen werde.«
»Danke.«
»Aber es könnte das eine oder andere zu Bruch gehen.«
»Eddie!«
»Ich mach doch nur Spaß. Okay, ich muss los.«
»Moment noch.« Mei griff nach hinten und rückte seine Krawatte zurecht. »So, jetzt ist alles perfekt.«
»Bin ich das nicht immer?« Er zupfte am Kragen des Smokings, den sie ihm besorgt hatte.
»Pass auf dich auf«, sagte sie, als er ausstieg.
Chase zwinkerte ihr zu, dann überquerte er den Vorplatz.
Er war absichtlich zu früh gekommen, verweilte im verglasten Foyer des Grand Theatre und beobachtete das eintreffende Publikum.
Die wahren Opernfans waren von den Firmenangebern leicht zu unterscheiden. Erstere waren aufgeregt und gespannt auf die Aufführung. Letztere traten laut und herablassend auf, um zu demonstrieren, dass sie das alles schon kannten und dass dieser Abend bloß eine unter vielen kostspieligen Zerstreuungen war. Sie setzten sich mit teuren Handys, edlen Uhren und protzigem Juwelenschmuck in Szene – Yuppies waren in China ebenso widerwärtig wie überall sonst.
Doch es gab noch eine weitere Besuchergruppe, die lieber unter sich blieb: Dem Sitzplan im Programmheft zufolge waren die meisten Balkon-Plätze Privatlogen vorbehalten. Chase ging davon aus, dass die Zielperson dort zu finden war.
Er behielt die Haupteingänge im Auge und machte sich mit den Gegebenheiten des Foyers vertraut, dann stieg er die Treppe zum Balkon hoch. Am Ende einer
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