Das Grab des Herkules
Ein Stück vor ihr trat ein Mann aus einem Büro. Er wandte ihr den Rücken zu und ging zum Lift am anderen Ende des Flurs. Ein Mann in Jeans und zerknautschter Lederjacke.
Eddie Chase.
Nina wollte ihm hinterherrufen, doch dann klappte sie den Mund wieder zu, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Außerdem, was machte er hier eigentlich nach dem ganzen Gerede von wegen Blaumachen?
Ihre Verwirrung wurde noch gesteigert, als sie sah, aus welcher Tür er gerade getreten war. Dahinter lag das Büro von Hector Amoros. Chase hatte so gut wie nichts mit Amoros zu tun – weshalb hatte er dann jetzt mit ihm gesprochen?
Die Fahrstuhltür schloss sich hinter Chase – falls er sie gesehen hatte, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
Nina fröstelte. Hatte er vielleicht gekündigt? Hatte er dem Leiter der IBAK seine Kündigung überreicht?
Sie begann zu zittern. Wenn es ihretwegen war, dann warf er vielleicht nicht nur beruflich das Handtuch …
Nina wollte gerade bei Amoros anklopfen und ihn fragen, was passiert sei, da wurde ihr Name ausgerufen. Offenbar war Popadopoulos zu einer schnellen Entscheidung gelangt.
Sie schwankte einen Moment, dann machte sie kehrt und ging zu ihrem Büro zurück. Eins nach dem anderen. Erst musste sie Popadopoulos loswerden und dann herausbekommen, was Chase in Amoros’ Büro gemacht hatte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, ihn von einer Dummheit abzuhalten. Nicht dass sie in dieser Beziehung in letzter Zeit besonders erfolgreich gewesen wäre, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt …
Der gebeugte Historiker erwartete sie im Stehen. »Dr. Wilde«, sagte er ein wenig widerwillig, »was das Hermokrates -Manuskript angeht … Die Bruderschaft gestattet Ihnen, den Text in Augenschein zu nehmen. Hier in New York.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Nina mit weniger Freude, als sie erwartet hatte.
»Natürlich gibt es gewisse Bedingungen hinsichtlich der Sicherheit und des Umgangs mit den Pergamenten – die Einzelheiten werde ich Ihnen bis zum Nachmittag per E-Mail zukommen lassen.« Seine Augen verengten sich hinter den goldgefassten Brillengläsern. »Und bevor Sie nachfragen: Nein, diese Bedingungen sind nicht verhandelbar.«
»Ich bin sicher, dass ich damit zurechtkommen werde«, sagte Nina zerstreut. Ihre Gedanken waren immer noch bei Chase.
Popadopoulos wirkte überrascht über ihr schnelles Einverständnis; offenbar hatte er mit einer längeren Auseinandersetzung gerechnet und war jetzt ein wenig enttäuscht, dass sie ihm vorenthalten wurde.
»Also schön«, sagte er. »Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen und lasse das Manuskript morgen aus Italien herfliegen. Ich werde natürlich zugegen sein, wenn Sie – und zwar Sie allein, niemand sonst – die Blätter in Augenschein nehmen.«
»Ja, großartig.« Nina blinzelte missmutig, riss sich dann jedoch zusammen. »Was ich eigentlich sagen wollte: Ich danke Ihnen, Mr. Popadopoulos, vielen Dank! Ich freue mich schon darauf. Danke.« Nina schüttelte ihm mit falscher Begeisterung die Hand; dann drängte sie den kleinen Mann jedoch regelrecht aus ihrem Büro, schlug die Tür hinter ihm zu, setzte sich und schlug die Hand vor den Mund.
Chase, was hast du getan?
Sie wollte gerade Amoros anrufen, als das Telefon klingelte. Erschreckt nahm sie den Hörer ab. »Hallo?«
»Hallo, Nina.« Es war Amoros persönlich. »Wenn Sie Zeit haben, könnten Sie dann einen Moment in mein Büro kommen?«
»Geht es – um Eddie?«
»Ehrlich gesagt, ja.« Er klang überrascht. »Ich wundere mich, dass Sie Bescheid wissen. Er hat gemeint, er habe Ihnen noch nichts gesagt.«
»Was gesagt?«, fragte sie voller Panik.
Es entstand eine Pause. »Vielleicht sollten Sie doch besser herkommen …«
»Du fliegst wohin ?«, fragte Nina. Gleich nach der Besprechung mit Amoros war sie auf die Straße gestürzt, in ein Taxi gesprungen und zu ihrer Wohnung zurückgefahren.
»Nach Shanghai«, antwortete Chase so beiläufig, als wäre ein Flug nach China für ihn ebenso alltäglich wie eine Fahrt mit der U-Bahn. Währenddessen stopfte er Kleidungsstücke in eine Tasche.
»Weshalb fliegst du nach Shanghai?«
Er lächelte herablassend. »Es handelt sich um einen geheimen IBAK-Auftrag.«
Nina wurde zornig. »Geheim, soso. Aber weißt du was? Da scheiß ich drauf! Sag mir sofort, was du vorhast!«
»Tut mir leid, Schatz, das ist wirklich geheim. Amoros sieht das genauso – und die UN ebenfalls.«
Empört stemmte Nina
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