Das Grab des Herkules
Publikum hatte. Die anderen Passagiere starrten sie an. Selbst nach New Yorker Standards war eine durchnässte, heftig blutende, dreckverschmierte Frau, die von einem Schwertkämpfer verfolgt wurde, schwer zu ignorieren.
»Hi!«, sagte Nina müde in die Runde und hielt das Buch hoch. »Die Ausleihfrist war überschritten. Der Typ wollte die Strafgebühr nicht zahlen.«
Einige Leute kicherten.
Nina ließ sich auf einen Sitz fallen und merkte zu spät, dass ihr Nebenmann niemand anders als der barmherzige Samariter war, der dann aber doch lieber die Flucht ergriffen hatte. »Oh, hey, Sie schon wieder«, sagte sie zu ihm und schüttelte etwas aus dem Ärmel ihrer ruinierten Armani-Jacke. »Könnten Sie das bitte kurz halten?«
Er musterte entsetzt die Kakerlake, die sie ihm auf die Hand gelegt hatte, dann schleuderte er sie auf den Boden und rückte einen Sitz von ihr ab. Nina schenkte ihm ein müdes, sarkastisches Lächeln, dann untersuchte sie das, was von dem Buch noch übrig war.
Der vordere Einband fehlte, desgleichen mehrere Blätter. Als sie die Seiten umschlug, klimperten Glassplitter auf den Boden. Ihr Verfolger hatte die ersten vier Seiten des Textes, beinahe ein Fünftel des Buches.
Natürlich hatte sie Kopien des Manuskripts. Doch offenbar gab es etwas, das sich nur aus dem Original erschloss, genau wie sie vermutet hatte – weshalb hätte jemand sonst solche Mühen auf sich nehmen sollen, um das Buch in seinen Besitz zu bringen?
Damit würde sie sich jedoch später befassen müssen – jetzt musste sie sich erst mal an einen sicheren Ort begeben und sich verarzten lassen.
Und ausgiebig duschen.
Popadopoulos’ Mund klappte lautlos auf und zu wie ein Fischmaul, als Nina die Überreste des Hermokrates auf ihrem Büroschreibtisch ausbreitete. Glasscherben rieselten aus den verbogenen Metallrahmen. »Das – das – das ist eine Katastrophe !«, quetschte er schließlich hervor.
Ninas Miene verfinsterte sich. »Mir geht’s so weit gut, danke der Nachfrage«, erwiderte sie wütend. Es war jetzt Abend, den größten Teil des Tages hatte sie auf einer Polizeiwache damit verbracht, die Ereignisse zu schildern, die in einem Bürogebäude des Stadtzentrums zu mehreren Toten geführt hatten. Drei weitere Männer waren in der New Yorker U-Bahn und in der Kanalisation verbrannt, zerschmettert worden oder ertrunken. »Übrigens, Ihr Freund mit dem Pferdeschwanz ist jetzt im Besitz der ersten vier Seiten.« Mit einem Seufzer klappte sie die entsprechende Stelle auf, um dem Griechen den Schaden zu zeigen. Dabei rieselten weitere Glasscherben auf die Tischplatte. »Ich nehme an, Sie haben keine Ahnung, wer das ist und für wen er arbeitet?«
»Diese Frage wollte ich Ihnen gerade stellen!«, erwiderte der Historiker nervös. »Ich habe nicht die geringste Ahnung! Die einzige Person, mit der ich offen über die Hermokrates -Pergamente gesprochen habe … sind Sie.« Er musterte Nina mit plötzlichem Argwohn. »Vielleicht stecken Sie ja hinter alldem, hmm? Hmm?«
Nina massierte sich erschöpft die Schläfen. »Ja klar, jedes Mal, wenn ich eine Bande von Psychos anheure, um alte Dokumente entwenden zu lassen, bitte ich sie auch gleich noch, mich dabei umzulegen !«
»Sie haben überlebt.«
»Sie ebenfalls!« Nina musterte ihn spöttisch und zog dabei eine Braue in die Höhe. »Wie haben Sie das eigentlich angestellt? Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Sprechen wir von etwas anderem«, sagte Popadopoulos eilig. Er beugte sich vor und richtete Ninas Schreibtischlampe auf die Seiten. »O nein, nein, nein! Sehen Sie nur! Das Pergament wurde beschädigt!« Er zeigte auf einen vertikalen Schnitt.
»Das betrifft leider alle Seiten. Ich wurde von einem Schwert aufgespießt«, sagte sie schlicht.
Popadopoulos’ Augen weiteten sich.
Ehe er seinem Zorn jedoch Luft machen konnte, fuhr Nina fort. »Und seien Sie froh, dass das Buch mich geschützt hat, denn sonst wäre ich jetzt tot, und Ihr Freund hätte sich den ganzen Text unter den Nagel gerissen.«
Popadopoulos’ Miene ließ erkennen, dass er das Für und Wider dieses Szenarios gegeneinander abwog. »Das wäre alles nicht geschehen, wenn Sie nicht darauf bestanden hätten, dass das Manuskript aus dem römischen Archiv hierhergeschafft wird«, sagte er schließlich und schlug die Seite um. Die Glasscheibe dahinter war zerbrochen. Scherben klirrten auf den Schreibtisch. Nina entfernte behutsam die restlichen Scherben von dem empfindlichen Pergament und suchte nach
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