Das Grab des Salomon
sie vielleicht als neuer Mensch wiederkehren, eine zweite Chance erhalten. Für gewöhnlich war Elizabeth klug genug, derlei Gedanken zu ignorieren, aber eines Abends verspürte sie den Drang so übermächtig, dass sie die Badewanne einließ. Vollständig bekleidet hatte sie neben der Wanne gestanden und den bestmöglichen Weg in den Tod zu planen begonnen.
Seit ihre Mutter gestorben war, hatten sich zwei widerstreitende Stimmen in ihrem Kopf eingenistet. Beide gehörten ihr, dennoch besaßen beide eine eigene Meinung. Eine war still und flüsterte ihr stets zu, dass alles gut werden würde, dass die Zeit alle Wunden heilte und ähnliches Blabla. Die zweite hegte dunklere Gedanken, die sie stetig nährte. Nichts würde sich bessern, meinte diese Stimme. Etwas anderes zu denken, sei sinnlos. Sie verdiente etwas Besseres, und wenn sie es nicht bekommen konnte, weshalb sollte sie dann weitermachen?
Mit untypischer Bestimmtheit hatte sich die erste Stimme zu Wort gemeldet: Wenn du dir auf diese Weise das Leben nimmst, werden deine heutigen Probleme im Vergleich zu dem, was dich auf der anderen Seite erwartet, lächerlich aussehen. In jener Nacht, in der sie in einem Augenblick der Unentschlossenheit neben der Badewanne stand, hatte sie entschieden, auf jene andere Stimme zu hören. Es war nicht jene Nathans gewesen, obwohl die Worte sich durchaus nach etwas angehört hatten, das von ihm hätte stammen können. Jedenfalls begann sie nachzudenken. Unter Umständen hatte sie doch nur dieses eine Leben. Was wartete tatsächlich nach dem Tod? Die Vorstellung einer Hölle hatte sie nie recht zu überzeugen vermocht. Was, wenn danach gar nichts folgte? Der Gedanke hatte sie mit jäher Furcht erfüllt. Sie hatte die Hand auf den Hebel zum Öffnen des Abflusses gelegt und war im Begriff gewesen, das Unterfangen zu vergessen. Dennoch hatte sie gezögert. In jenem Moment hatte die sonst so dezente Stimme eindringlicher denn je gemeint: Nutze das Leben, das du hast – wenn schon nicht für dich selbst, dann für andere. Hab Geduld, glaub an dich selbst. Es gibt andere Menschen, die selbst Bürden zu tragen haben. Hilf ihnen ...
Es war eine Vorstellung, die etwas Inspirierendes hatte. Unweigerlich musste sie an Nathan denken. Er gab für seine eigene Berufung so vieles auf. Nathan war ein kluger Bursche, der bei allem erfolgreich gewesen wäre, was er versucht hätte, aber er hatte sich für einen Weg des Dienstes an der Gemeinschaft entschieden.
Mit der Hand am Abflusshebel war Elizabeth klar geworden, dass dies auch für sie eine Möglichkeit war. Offensichtlich nicht dieselbe wie für ihn, aber wenn sie ohnedies bereit war, ihr Leben wegzuwerfen, warum sollte sie es dann nicht ... wiederverwerten ? Da es nicht geneigt schien, ihre eigene Lage zu verbessern, konnte sie zumindest versuchen, es zu ändern, um anderen zu helfen.
Schon davor hatte sie häufig mit dem Gedanken gespielt, die Krankenpflegerschule zu besuchen. Sie hatte das Haus von ihren Eltern geerbt, und die Hypothek war mit dem Geld aus der Lebensversicherung ihres Vaters abbezahlt worden. Durch die Versicherung und Bankkonten ihrer Mutter besaß sie genug Mittel, um sich eine ganze Weile über Wasser zu halten. Außerdem würde es vielleicht Zuschüsse geben. Jedenfalls gelangte sie zu dem Schluss, dass sie es versuchen sollte.
Und wenn die Stimme Rechte hatte, war es vielleicht ihre einzige Chance.
Die Gedanken fühlten sich seltsam an, als stammen sie von jemand anders. Sie war mutterseelenallein auf der Welt und befand sich in demselben kleinen Badezimmer, in dem ihre Mutter der kleinen, badenden Elizabeth früher vorgesungen, die Haare gewaschen, sie abgetrocknet hatte.
Sie wusste, dass die Badewanne immer noch da sein würde, falls dieser neue Plan nicht aufgehen sollte. Eine beunruhigende Vorstellung, die sie in jener einsamen Nacht veranlasste, den Hebel zu drücken und das Wasser durch den Abfluss auszulassen.
Während Elizabeth nun, über fünf Jahre später, auf Nathan wartete, dachte sie an jene Nacht zurück. Inzwischen verkörperte sie einen anderen Menschen als jenen, der damals neben der Wanne gekauert hatte. Zumindest hoffte sie das. Im Verlauf der Zeit war sie mit anderen Männern ausgegangen, darunter Nathans bester Freund Josh – wenngleich es ihr Kopfzerbrechen bereitete, wie sie ihm diese bestimmte Neuigkeit mitteilen sollte. Josh hatte es Nathan nie gesagt, das hatte er erwähnt, als er sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass
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