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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Geräusche, die von drinnen kamen, dazu verleiten, das Ohr an die Tür zu legen. Es klang, als ob eine Frau schluchzte.
    »Ich kann nicht«, sagte die Frauenstimme. »Ich kann nicht, Howie!«
    »Du mußt, Irma. Die Leute warten. Wir müssen hinunter.«
    »Ich kann es nicht durchstehen. Nicht jetzt. Sie sollen ein an­dermal kommen.«
    »Nein, Irma. Du weißt, was Mr. Tait gesagt hat. Wir müssen es durchstehen; du weißt, was sie sonst tun. Wir müssen! Do­nald zuliebe.«
    Es wurde still hinter der Tür. Dann sagte Irma Clarke: »Gut!
    Gut, Howie. Gönne mir nur noch eine Minute. Eine einzige Mi­nute, bitte!«
    Dave machte hastig kehrt und lief die Treppe hinunter.
    Janey blickte auf. »Na?«
    »Jetzt kommen sie«, erwiderte er.
    »Ist etwas los?«
    »Nein, nichts.« Er sah Smalley an, der eine bemalte Vase auf ei­nem Sofatischchen betastete. »Um Himmels willen, Smalley, hö­ren Sie auf, hier herumzuschnüffeln. Sie sind hier nicht zu Hause.«
    Der Fotograf schien sich über diesen Ausbruch zu wundern, stellte aber die Vase hin. Ein paar Minuten später kamen Irma und Howard Clarke lächelnd die Treppe herunter. Rund um die Augen der Frau lag eine dicke Schicht weißen Puders.
    Sie aßen in der Stadt zu Abend, und Dave versuchte Janey zu überreden, vor dem Schlafengehen noch ein Gläschen bei ihm zu trinken. Sie berief sich auf ihre Müdigkeit, und so begleitete er sie nach Hause. An der Ecke erbot er sich galanterweise, ihr eine Abendzeitung zu kaufen.
    Mitten in einer zärtlichen Umarmung vor dem Haustor sagte Janey: »O mein Gott!« und hielt die erste Zeitungsseite näher an das Flurlicht.
    »Was denn?« fragte Dave und blickte über ihre Schulter.
    »Bob Bernstein!«
    Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand. Ihm wurde ganz mul­mig zumute, als er den Bericht über den plötzlichen und uner­warteten Tod des Fotografen las. Ein Unglücksfall in der Dun­kelkammer, schrieb die Zeitung. Der Bericht war recht knapp, hinterließ aber ein sehr lebhaftes Bild vor Daves innerem Auge. Eine Flasche mit Säure. Bob Bernsteins freundliches, nettes Ge­sicht. Er schloß die Augen.
    »Armer Bob!« flüsterte er.

3
    Frag den Mann, der eins hat
    Als Dave Donnerstag früh zur Arbeit kam, zeigte sein Gesicht noch deutliche Spuren der Erschütterung über Bernsteins Tod. Ihre Freundschaft war zwar nur von kurzer Dauer gewesen, aber Bob Bernstein war ein so herzlicher Mensch gewesen, daß auch eine kurze Freundschaft mit ihm ein Erlebnis war.
    Dave wußte nicht recht, ob er Bernsteins Frau anrufen und ihr sein Beileid ausdrücken sollte, aber er hatte sie erst am vorigen Wochenende kennengelernt. Der Gedanke, anzurufen, war ihm peinlich, und er wälzte ihn mit allerlei Vernunftgründen von sich ab. Statt dessen beschäftigte er sich mit den Vorbereitungen für den Job, den man ihm aufgehalst hatte.
    Um zehn Uhr bat er Louise, ihm Gordon Taits Akten über den Burke-Konzern herauszusuchen. Als er sie in Händen hatte, nahm er die mit dem Vermerk ›Vertraulich‹ bezeichnete Mappe heraus und begann, die angesammelten Dokumente zu studieren.
    Sie waren bei weitem nicht sensationell und bestanden zu­meist aus Briefen an und von Kermit Burke, aber es lag auf der Hand, warum man sie vertraulich behandelt hatte.
    Er griff nach einem typischen Schreiben, das, wie er feststell­te, von Burke fast ein Jahr, bevor die Burke-Baby-Kampagne das Licht der Welt erblickte, an Gordon Tait persönlich gerichtet worden war.
    Lieber Gordy,
    ich habe nun endlich Gelegenheit gehabt, die Vorschläge, die Sie mir vorige Woche auf den Schreibtisch legten, durchzuse­hen, und ich schreibe Ihnen, um Ihnen meine Meinung mitzutei­len.
    Nun bin ich ja nur ein Baby-Nahrungs-Farmer, lieber Gordy, und habe nie behauptet, ein Werbegenie zu sein. Aber mein Opa hat immer zu mir gesagt, mit gesundem Menschenverstand kommt man auf dieser Welt aufjeden Fall am weitesten, und mir ist es nicht schlecht bekommen, daß ich mich einfach nur auf meinen Grips verlassen habe.
    Nun zu den Vorschlägen. Freilich sind die Bilder recht hübsch. Sie dürfen wirklich auf Ihre Zeichnerin stolz sein. Auch der Text ist nicht übel, aber ich finde, er könnte natürlicher klingen. Ausdrücke wie ›vitamingesättigte Güte‹ werfen mich glatt um.
    Aber ich muß gestehen, daß mir die Entwürfe alles in allem so Vorkommen wie ein mageres Huhn – lauter Gegacker und kein Fleisch. In dem ganzen verflixten Zeug steckt nicht eine einzige ›Idee‹ drin, wie mein Opa sagen würde. Es

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