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Das graue distinguierte Leichentuch: Roman

Titel: Das graue distinguierte Leichentuch: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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ein Wort mit fünf Buchstaben eingefallen: Adieu.«
    »Dave!«
    Er marschierte ins Vorzimmer und kam sich dabei recht lächerlich vor. Sein Hut und sein Mantel lagen auf einem Stuhl neben einem goldgerahmten Spiegel. Die Rückenlehne des Stuhls war wie eine Leier geformt. Dave griff nach dem Hut und Mantel und legte die Hand auf den Türknauf.
    »Dave – warten Sie doch!« Sie stand auf der Schwelle.
    »Was wollen Sie denn?«
    »Eben ist mir etwas eingefallen.« Sonja lehnte sich gegen den Türpfosten, die eine Hüfte vorgeschoben. »Ich erinnere mich an die Bilder, von denen Sie gesprochen haben. Die Babyfotos.«
    Er kehrte zurück. »Und?«
    »Legen Sie Hut und Mantel weg, dann werde ich es Ihnen erzählen.«
    Sie sah zu, wie er ihrem Befehl gehorchte. Sie hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Rücklings wich sie ins Rote Zimmer zurück, das Kinn erhoben, die Augen geschlossen. Mit einem unwilligen Brummen packte er sie rauh bei den Armen und küßte sie. Ihr Körper fühlte sich bei weitem nicht so zerbrechlich an, wie er aussah.
    »Ja«, seufzte Sonja, »so spiele ich gerne ›Scrabble‹.«
    »Und die Fotos?«
    »Können wir das nicht auf nachher verschieben?«
    »Nein.«
    »Gut.« Sie rieb die Wange an seiner Schulter. »Vorige Woche kam ein Mann in die Wohnung und brachte sie Mama. Sie lagen in einem braunen Umschlag, auf dem der Name der Reklamefirma stand, mit der Mama arbeitet. Ich habe ihn auf ihrem Toilettentisch liegen sehen. Was ist denn daran so wichtig?«
    »Wer war dieser Mann?«
    »Das weiß ich nicht. Er sah nett aus, wie ein Hochschulprofessor. Nur jünger. Und er rauchte Pfeife. Daran kann ich mich erinnern, weil Mama sagte, als er weg war, daß das ganze Haus nach Pfeife rieche.«
    »Ross!« stieß Dave hervor.
    »Was?« erwiderte Sonja empört.
    »Passen Sie auf, Sonja – mir ist eben etwas sehr Wichtiges eingefallen. Das Haus stürzt ein.«
    »Welches Haus?«
    »Egal. Glauben Sie mir – jetzt muß ich wirklich verschwinden! Es war ein schöner Abend. Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken.«
    »Ich will aber nicht, daß Sie weggehen.« Sie betonte ihren Wunsch mit einer leichten Körperbewegung. »Sie sollen bleiben, Dave.«
    »Ich kann nicht bleiben, Schatz, wirklich nicht. Erstens habe ich meiner Mutter versprochen, vor meinem vierzigsten Jahr keine Frau anzurühren. Zweitens –«
    Sie löste sich von ihm und stampfte lautlos mit dem Fuß auf, »Sie Schwein! Sie Lump! Sie Schwuler!«
    »Oh – was für einen erstaunlichen Wortschatz Sie haben!« sagte Dave.
    »Raus!« schrie Sonja. »Lassen Sie sich nie wieder bei mir blicken!«
    »Grüßen Sie die Mama von mir!« sagte Dave.
    Als er unten angelangt war, empfand er das unwiderstehliche Verlangen, allein zu sein – am liebsten in einer Telefonzelle. Er fand eine ganz versteckt hinten in einem Drugstore an der First Avenue und grub in seinen Taschen nach Kleingeld. Er besaß nur einen Vierteldollar, warf ihn trotzdem in den runden Schlitz und wählte Janeys Nummer.
    Das Telefon klingelte achtmal, bevor ihm einfiel, daß sie möglicherweise nicht zu Hause sei. Er sah nach seiner Uhr: Es war fünf Minuten vor elf. Wenn sie Harlow Ross’ Einladung akzeptiert hatte, würden sie in ungefähr fünfzehn Minuten das Broadhurst-Theater verlassen. Es würde nicht leicht sein, sie in dem Menschengewühl ausfindig zu machen, aber es war einen Versuch wert.
    Er verließ die enge Zelle und winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran.
    Die Straße vor dem Theater war verhältnismäßig leer, machte aber einen erwartungsvollen Eindruck. Als Dave aus dem Wagen stieg, stürzte ein Platzanweiser auf die innere Tür zu, in leicht panischer Hast, um das Publikum aus dem Saal zu lassen. Dann strömten die Menschen heraus, kritisierten eifrig das Stück, das sie gesehen hatten, und stritten wie üblich um die Taxis. Der erste Anblick der Menschenmenge war entmutigend. Sämtliche Gesichter verschmolzen zu einer einzigen universellen Physiognomie. Er stand an der Kante des Bürgersteigs und bewegte den Kopf hin und her wie ein javanischer Tänzer. Ein berittener Polizist preschte an ihm vorbei, drei Frauen hielten ihm klappernde Sammelbüchsen unter die Nase, das Unternehmen schien hoffnungslos zu sein.
    Dann war er zum erstenmal für Harlows allgegenwärtige Pfeife dankbar. Da stak sie, ein knorriger schwarzer Eichenstumpen, wie eine Keule zwischen seinen Zähnen. Neben ihm ging Janey. Sie sah viel zu hübsch und viel zu zufrieden aus. Zuerst wollte er

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