Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
Avenue?«
»Das Übliche. Sagen Sie mal, könnten wir uns bald wieder treffen? Ich erzähle Ihnen, was ich erreicht habe, und Sie erzählen mir. Wie wäre es mit heute abend?«
»Heute abend habe ich keine Zeit. Ich schreibe eine Serie über Jugendkriminalität. Und nach einem von Gus’ Martinis bringe ich nichts Rechtes mehr zustande.«
»Wir brauchen ja nicht zu Gus zu gehen. Ich will mich nur eine Weile mit Ihnen unterhalten. Soll ich nach der Arbeit zu Ihnen in die Redaktion kommen?«
»Redaktion? Die Bude, in der ich sitze, enthält einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen privaten Spucknapf. Aber wenn Sie wollen, sind Sie herzlich willkommen.«
»Schön. Gegen halb sechs bin ich bei Ihnen.«
»Sagen wir sechs.«
»Gut.«
Janey kehrte an diesem Nachmittag nicht mehr zurück. Dave hatte also keine Gelegenheit, ihr den Olivenzweig zu reichen. Um halb vier wurde ihm von dem Bürodiener ein Personalrundschreiben auf den Schreibtisch gelegt. Der Inhalt lautete:
Ich darf zu meiner Freude mitteilen, daß Dave Robbins zum Direktor der Firma befördert worden ist. Ich bin überzeugt, daß Sie alle das Bedürfnis haben werden, Dave zu den schönen Leistungen zu gratulieren, die ihm diesen Titel eingebracht haben.
Homer Hagerty
Generaldirektor
Dave legte das Schreiben in die unterste Schublade seines Schreibtisches, um es für die Nachwelt aufzubewahren. Zehn Minuten später rief Wilton Sheplow an und fragte Dave, ob er ein gutes Porträtfoto besitze, das man den Tageszeitungen und der Fachpresse zustellen könne. Der Rest des Nachmittags verging damit, daß er sich bescheiden und lächelnd bei den Angestellten der Firma Hagerty & Tait bedankte, die herbeigeströmt kamen, um ihn zu beglückwünschen. Louise war die letzte, die ihre Glückwünsche vortrug. Sie betrachteten ihren Chef so, wie die Touristen das Lincolndenkmal betrachten.
Dave verließ das Büro um halb sechs. Ermuntert durch das heitere Wetter, ging er zu Fuß zum Gebäude des Times- Express. Aus der Anzeigetafel ersah er, daß Max Theringer im vierten Stock anzutreffen sei.
Er fand sich zwischen verstreuten Inseln dicht bepackter Schreibtische in einem riesigen saalartigen Raum wieder, in dem außer Max Theringer keine Menschenseele war. Der Polizeireporter hockte wie ein hungriger Habicht über einer uralten Schreibmaschine. Als Dave hereinkam, blickte er auf, fuhr jedoch fort, mit zwei Fingern rasend schnell auf die Tasten zu hämmern. Dave zog einen Stuhl heran und wartete, bis Max Theringer das Blatt Papier aus der Walze riß.
»Na, was sagen Sie zu dieser Bude?« fragte Theringer, sich in dem knarrenden Sessel zurücklehnend. »Nicht gerade sehr elegant, oder wie? Also, was haben Sie auf dem Herzen, junger Mann? Sind Sie der Beziehung zwischen Ihrem Freund Burke und Annie Gander nachgegangen? Ich habe mir seither den Kopf darüber zerbrochen.«
»Es gab eigentlich gar keine Beziehung zwischen den beiden. Burke war lediglich das erste Erpressungsopfer, das Annie sich ausgesucht hatte. Deshalb hat Willie Shenk ihn in der Nähe ihrer Wohnung gesehen. Aber Burke war viel zu gerissen, um selber mit dem Geld herauszurücken. Er schickte Annie Gander zu Homer Hagerty, und der mußte die Zeche bezahlen. Mehr steckt nicht dahinter.«
»Bestimmt nicht?«
»Bestimmt nicht. Ich habe in der letzten Zeit viel nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, daß ich mich vielleicht verrannt habe. Die Erpressung steht außer Frage, aber Mord –«
Theringer hob eine seiner schütteren Brauen.
»Was sind das plötzlich für neue Töne? Haben Sie Ihr Urteil über Hagerty geändert?«
»Darum handelt es sich nicht. Ich habe nie beweisen können, daß Hagerty mit dem Tod Annie Ganders oder mit den Anschlägen auf mein Leben auch nur das geringste zu tun gehabt hätte. Übrigens bin ich gar nicht davon überzeugt, daß solche Anschläge überhaupt stattgefunden haben. Die Eisenbahngeschichte muß ein Zufall gewesen sein, und es liegen keine Beweise dafür vor, daß die Tablettenflasche Gift enthalten hat. Ich beginne allmählich zu glauben, daß es lauter Hirngespinste sind – wie Sie das von Anfang an vermutet haben.«
Der Reporter knallte einen Bleistift auf die Tischplatte hin. »Sie sind aber ein sehr launischer Herr, wie? Den einen Tag sehen Sie an jeder Ecke den Schwarzen Mann lauern und am nächsten Tag ist alles eitel Sonnenschein. Was zum Teufel ist denn passiert? Hat Ihr Chef Ihnen eine Gehaltserhöhung bewilligt?«
Dave errötete. »Das
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