Das graue distinguierte Leichentuch: Roman
gut«, sagte Dave und stand auf. »Aber ich möchte noch über Annie reden.«
»Über die reden wir später«, sagte Theringer und richtete seine Krawatte. »Wenn Ihnen dann noch nach Reden zumute ist.«
Auf der Straße wollte Dave einem Taxi winken, aber Theringer murmelte irgendwas von Spesenrechnungen und zog Dave zur U-Bahn-Haltestelle an der Ecke. In verbissenem Schweigen fuhren sie unter der Erde bis zur Vierzehnten Straße und tauchten wieder auf in einer Welt, die schäbiger war als die, aus der sie gekommen waren. Das Gasthaus war drei Häuserblocks vom Fluß entfernt, und vier Polizeiautos und ein Ambulanzwagen sperrten das Viertel gegen Schaulustige ab. Es war dunkel geworden, und eines der Polizeifahrzeuge hatte einen Scheinwerfer auf den Eingang des Gebäudes gerichtet. Die Häuser der Straße schienen unwirklich, wie Filmkulissen.
Theringer zückte seinen Presseausweis und betrat das dreistöckige verwahrloste, braune Haus. Er grüßte ein paar Männer in Uniform und in Zivil, offenbar alte Bekannte, und Dave war stolz darauf, in seiner Gesellschaft zu sein. Vor der Tür zur Wohnung des Mordopfers klopfte ein Mann mit rotem Gesicht und braunem Tweedanzug Theringer auf den Arm und sah Dave neugierig an.
»Das ist Robbins«, sagte Theringer. »Ein Anfänger, den ich anlerne. Robins, sagen Sie schön Guten Tag zu Leutnant Berger.«
Dave streckte seine Hand aus; Berger sah verwundert drein, schlug aber ein. Dann öffnete er die Tür, und sie traten ein.
In einem kleinen Zimmer waren drei Männer, einem von ihnen hing ein Stethoskop aus der Tasche. Sie sprachen leise miteinander, in gelassenem Ton, so daß Daves Aufregung sich etwas legte.
Sie drehten sich zu ihnen um, und einer lächelte Theringer sogar zu. Dave war ganz ruhig. Warum sah Theringer nur so finster drein?
Dann sah er die Leiche.
Das Mädchen mußte anfangs zwanzig gewesen sein. Ihre Sachen zeigten noch die Merkmale der üblichen Teenagerkleidung: ihr Wollpullover war übergroß, ihr Rock eher kurz. Sie hatte etwas Studenten- und zugleich Bohemienhaftes an sich, mit ihrem kurzen Haarschnitt, den Ponyfransen, ihrer frechen Stupsnase und dem blaßrosa Lippenstift. Ihr Zimmer war Ausdruck ihrer selbst: College-Wimpel hingen neben Braque- Drucken. Bestimmt hatte sie auch viel gelesen: auf den selbstgemachten Bücherregalen herrschte eine Unordnung, die bewies, daß die vielen Bücher auch benutzt wurden. Allem Anschein nach war sie ein reizendes, liebenswertes, nachdenkliches, interessantes Mädchen; Dave dachte, daß er sie wahrscheinlich gemocht hätte.
Doch dann, auf den zweiten Blick, verflogen seine friedlichen Gedanken, traf ihn die grausame Wahrheit mit schmerzhafter Heftigkeit. Nichts davon traf auf sie zu. All das war Vergangenheit, jäh abgerissen – ein Ticken der Uhr, das Aufblitzen einer Messerklinge. Nun war sie ein Ding, grotesk zusammengekrümmt lag sie auf einem Häkelteppich, der gierig das von ihr verlorene Blut aufsog. Die langen wohlgeformten Beine waren schamlos gespreizt, die Augen geschlossen, der Mund weit geöffnet, und unterhalb des Mundes Dave spürte ein Würgen in der Kehle, und Theringer, der dies gleich bemerkte, schob ihn zur Tür hinaus in den Flur. Leutnant Berger, der mit einem Polizisten sprach, warf ihnen einen fragenden Blick zu, war aber verständnisvoll genug, sich nicht über Daves Verfassung zu mokieren.
Theringer hielt Dave am Arm, als sie die Stiegen hinunter- und hinaus in die belebende Kühle der Straße gingen.
»Ich komme mir so dumm vor«, sagte Dave. »Es war einfach der Schock. Diese Wunde –«
»Hat ihr fast den Kopf abgeschnitten«, knurrte Theringer. »Ein hübsches kleines Mädchen.«
»Aber was für ein Unmensch –«
»Verdammt nochmal, woher soll ich das wissen?« sagte Theringer barsch. »Irgendein Besessener. Der Freund vielleicht, der
Hauswart oder eine Freundin, der sie zu gut aussah, vielleicht auch irgendein Psychopath, der zufällig ins Haus kam – wer weiß. Woran erkennt man einen Killer?« Seine Stimme wurde sanfter, als er Daves Gesichtsfarbe sah.
»Sie sind ja ganz durcheinander, lieber Freund. Wie wärs mit einem Drink?«
»Gute Idee. In der Sechzehnten Straße gibts ein Lokal, es heißt ›Ferdy‹ –«
»Dann hören Sie zu. Sie gehn da hin und genehmigen sich einen, das wärmt; ich geh zurück und mach da oben noch fertig. Wir sehn uns dann in einer Viertelstunde, vielleicht dauerts auch weniger lange. Okay?«
»Okay«, sagte Dave.
Es vergingen
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