Das Graveyard Buch
glücklich. Sie war ein aufgewecktes Kind, das viel sich selbst überlassen war. Ihre Mutter arbeitete für eine Fernuniversität . Sie unterrichtete Schüler, die sie nie aus der Nähe sah. Sie benotete Aufsätze, die sie über das Internet erhielt, und schic k te sie mit Ratschlägen und aufmunternden Worten versehen wieder zurück. Scarletts Vater war Profe s sor für Teilchenphysik, doch es gab zu viele Leute, die Teilchenphysik unterrichten wollten, e r klärte Sca r lett, und andererseits zu wenige, die es lernen wollten, und deshalb mussten Scarletts Eltern von einer Un i versitätsstadt zur anderen ziehen und in jeder neuen Stadt hoffte Scarletts Vater auf eine feste Anstellung, aber er bekam nie eine.
»Was ist denn Teilchenphysik«, fragte Bod.
Scarlett zuckte die Schultern. »Da gibt es die Atome, so Dinger, die sind so klein, dass man sie nicht sehen kann, und da sind wir alle draus gemacht. Und dann gibt’s Dinger, die sind noch kleiner als Atome, und das ist Teilchenphysik.«
Bod nickte und folgerte daraus, dass Scarletts Vater sich wahrscheinlich für Fantasiedinger interessie r te.
An jedem Werktag streiften Bod und Scarlett nachmi t tags über den Friedhof. Sie zogen Inschriften mit ihren Fingern nach und schrieben sie nieder. Bod erzählte Sca r lett alles, was er über die Bewohner des Grabes, der Gruft oder des Mausoleums wusste, und sie erzählte ihm Geschichten, die sie gelesen oder g e hört hatte. Manchmal redete sie auch über die Welt draußen, über Autos und Busse, über Fernsehgeräte und Flugzeuge. (Bod hatte schon welche über dem Friedhof fliegen sehen. Er hatte sie für laute Silberv ö gel gehalten, aber bis jetzt hatten sie ihn nicht interessiert.) Er wiederum erzählte von den Ze i ten, als die Leute aus den Gräbern noch lebten. Wie S e bastian Reeder in die Stadt London gereist war, um die Kön i gin zu sehen. Die Königin war eine dicke Frau mit einer Pelzkappe, die alle zornig anfunkelte und die übe r haupt kein Englisch sprach. Seb a stian Reeder konnte sich nicht erinnern, die wievielte Königin das gewesen war, aber lange konnte sie nicht Königin g e blieben sein.
»Wann war das denn?«, fragte Scarlett.
»Er ist 1583 gestorben, so steht es auf seinem Gra b stein. Also muss es vorher gewesen sein.«
»Wer ist denn der Älteste auf dem ganzen Frie d hof?«, fragte Scarlett.
Bod dachte angestrengt nach. »Wahrscheinlich Caius Pompeius. Er kam hundert Jahre, nachdem die ersten Römer ihren Fuß auf diese Insel gesetzt hatten. Das hat er mir jedenfalls erzählt. Er mochte die Str a ßen.«
»Dann ist er also der Älteste von allen?«
»Ich glaub, schon.«
»Können wir nicht in diesen kleinen Steinhäusern spi e len?«
»Du kannst da nicht rein. Die sind alle abgeschlo s sen.«
»Kannst du denn rein?«
»Natürlich.«
»Und warum kann ich nicht?«
»Das ist der Friedhof«, erklärte er. »Ich bin Ehrenbü r ger des Friedhofs. Deshalb komme ich hier überall rein.«
»Ich möchte aber in diesen Steinhäusern spielen.«
»Das kannst du nicht.«
»Du bist gemein.«
»Bin ich nicht.«
»Hundsgemein.«
»Bin ich nicht.«
Scarlett vergrub die Hände in den Taschen ihres An o raks und ging den Hügel hinunter, ohne Auf Wieders e hen zu sagen. Sie war überzeugt, dass Bod ihr etwas ve r hei m lichte, und zugleich ahnte sie, dass sie ungerecht war, und das machte sie nur noch w ü tender.
Am Abend fragte sie ihre Eltern beim Essen, ob schon jemand das Land bewohnt hatte, bevor die Römer k a men.
»Woher hast du das mit den Römern?«, fragte ihr V a ter.
»Das weiß doch jeder«, sagte Scarlett mit vernichte n dem Blick. »Also, war da jemand?«
»Die Kelten«, gab ihre Mutter zur Antwort. »Die w a ren zuerst da. Die Römer haben sie unterworfen.«
Auf der Bank neben der alten Kapelle hatte Bod ein ähnliches Gespräch.
»Die Ältesten?«, sagte Silas. »Ehrlich gesagt, Bod, das weiß ich nicht. Der Älteste, dem ich auf dem Friedhof begegnet bin, ist Caius Pompeius. Aber es gab hier schon Menschen vor den Römern. Jede Menge, schon lange, lange vorher. Wie kommst du mit dem ABC voran?«
»Gut. Wann lerne ich denn zusammengesetzte Buc h staben?«
Silas überlegte. »Bestimmt gibt es unter den vielen begabten Menschen, die hier begraben liegen, auch ein paar Lehrer. Ich werde mich erkundigen.«
Bod war ganz aufgeregt. Er stellte sich vor, wie er schon bald alles lesen konnte. Alle Geschichten wü r den dann nur darauf warten, von ihm entdeckt zu
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