Das Graveyard Buch
beschützen können. Hier lebst du im Kreis derjenigen, die dich lieben. Draußen wärst du nicht sicher. Noch nicht.«
»Aber du gehst doch auch nach draußen. Du gehst j e de Nacht nach draußen.«
»Ich bin unendlich viel älter als du, mein Junge. Und ich bin überall sicher, ganz gleich, wo ich bin.«
»Das bin ich auch.«
»Ich wünschte, es wäre so. Aber nur, solange du hie r bleibst, bist du wirklich sicher.«
Oder:
»Wie man das macht? – Manches lernt man durch E r ziehung, manches durch Übung, manches kommt einfach mit der Zeit. Diese Fertigkeiten erwirbst du, indem du dich damit beschäftigst. Schon bald wirst du lernen, dich unsichtbar zu machen, durch Wände zu gehen und trau m zuwandeln. Manches können die Lebenden nicht lernen, da wirst du noch ein bisschen warten müssen. Aber ich bin sicher, dass du selbst diese Dinge am Ende lernen wirst.«
»Schließlich bist du Ehrenbürger des Friedhofs«, sa g te Silas. »Also sorgt der Friedhof für dich. Da du hier lebst, kannst du in der Dunkelheit sehen. Du kannst dich auf eine Weise fortbewegen, die den übrigen Lebenden nicht gegeben ist. Sie übersehen dich, ihre A u gen gleiten von dir ab. Auch ich bin Ehrenbürger des Friedhofs, obwohl das in meinem Fall nicht mehr als ein Aufenthaltsrecht bedeutet.«
»Ich will so sein wie du«, sagte Bod und schob die Unterlippe vor.
»Nein«, widersprach Silas, »das willst du nicht.«
Oder:
»Wer da liegt? – Meistens steht es auf dem Gra b stein geschrieben. Kannst du schon lesen? Kennst du das ABC?«
»Das was?«
Silas wiegte den Kopf, sagte aber nichts. Mr und Mrs Owens waren zu ihren Lebzeiten keine großen Leser g e wesen und Fibeln gab es keine auf dem Friedhof.
In der folgenden Nacht erschien Silas vor der Familie n gruft der Owens. Unter dem Arm hatte er drei große B ü cher, zwei bunte Lesefibeln (A wie Apfel und B wie Ball) und eine Ausgabe von ABC – die Katze lief im Schnee. Außerdem hatte er Papier und eine Schachtel mit Bun t stiften dabei. Dann ging er mit Bod über den Frie d hof und legte dessen kleine Ki n derhand auf die jüngsten, noch gut erhaltenen Gra b steine und Gedenktafeln und brachte ihm bei, die Buchstaben des ABC in den Schrif t zügen zu erke n nen, angefangen mit dem steilen Dach des großen A.
Silas gab Bod die Aufgabe, alle sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets auf dem Friedhof zu fi n den. Bod schloss die Aufgabe stolz mit Ezekiel Ulmsleys G e denktafel ab, die in die Mauer der alten Kapelle eingela s sen war. Sein Vormund war sehr zufri e den mit ihm.
Jeden Tag ging Bod nun mit Papier und Buntstiften auf den Friedhof und schrieb, so gut er konnte, Wörter und Zahlen ab. Jeden Abend besuchte er Silas, bevor di e ser nach draußen in die Welt ging, und ließ sich von ihm erklären, was er aufgeschrieben hatte. Außerdem übe r setzte ihm Silas die lateinischen Brocken, auf die sich das Ehepaar Owens keinen Reim machen konnte.
Ein sonniger Tag. Hummeln besuchten die Wildbl u men in einer Ecke des Friedhofs, krabbelten auf dem Stechginster und auf den Glockenblumen herum und li e ßen ihr schläfriges Brummen vernehmen. Bod lag im Licht der warmen Frühlingssonne und be o bachtete einen bronzefarbenen Käfer auf dem Gra b stein des Geografen Reeder, seiner Frau Dorcas und ihres Sohnes Sebastian (Fidelis ad Mortem). Bod hatte die Inschrift schon abg e schrieben und war nur noch mit dem Käfer beschäftigt, als plötzlich jemand sagte:
»Du! Was machst du da?«
Bod schaute auf. Hinter dem Ginsterbusch stand j e mand und beobachtete ihn.
»Nists«, sagte Bod und streckte die Zunge heraus.
Das Gesicht hinter dem Ginsterstrauch zog eine Gr i masse wie ein Wasserspeier mit herausgestreckter Zunge und Glupschaugen. Gleich darauf verwandelte es sich wieder in ein Mädchenantlitz.
»Nicht schlecht«, sagte Bod beeindruckt.
»Ich kann tolle Gesichter schneiden«, sagte das Mä d chen. »Schau dir das mal an.« Mit einem Finger schob sie die Nase himmelwärts, verzog den Mund zu einem bre i ten Grinsen, kniff die Augen zusammen und blähte die Backen auf. »Weißt du, was das ist?«
»Nein.«
»Ein Ferkel, Blödmann.«
»Ach so«, sagte Bod, »du meinst F wie Ferkel.«
»Natürlich, was denn sonst. Warte mal.«
Sie kam hinter dem Ginsterstrauch hervor und trat n e ben Bod, der nun aufstand. Sie war ein bis s chen älter als er, ein bisschen größer und trug helle Farben, Gelb, Rosa und Orange. Bod kam sich in seinem grauen L a ken trist und schäbig
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