Das Graveyard Buch
gab, bei der Mo eine Gänsehaut bekam, dann war es der Putzdienst im naturwissenschaf t lichen Saal: Bunsenbrenner wegräumen, Reagenzgläser und Petrischalen ausspülen und an ihren Platz stellen, Filterpapier und sonstigen Kram einsammeln. Sie kam – entsprechend einem strengen Rotationssystem – nur ei n mal in zwei Monaten dran, aber es war ja wohl klar, dass sie genau in der schlimmsten Woche ihres Lebens auch noch im naturwissenschaf t lichen Labor sein würde.
Wenigstens war Mrs Hawkins, die Biologielehrerin, noch da, suchte Unterlagen zusammen und sammelte Sachen ein am Ende des Schultags. Dass sie hier war, tröstete Mo ein bisschen.
»Du machst das gut, Maureen«, sagte Mrs Ha w kins.
Eine weiße Schlange in einem Glas mit Formalin blickte starr auf sie herab.
»Danke«, sagte Mo.
»Macht ihr den Putzdienst nicht immer zu zweit?«, fragte Mrs Hawkins.
»Ich sollte den Dienst eigentlich mit Owens m a chen«, antwortete Mo. »Aber der war schon seit ein paar Tagen nicht mehr in der Schule.«
Die Lehrerin runzelte die Stirn . »Wer war das noch mal?«, fragte sie zerstreut. »Ich habe ihn nicht auf meiner Liste.«
»Bob Owens. Braune Haare, ein bisschen zu lang. R e det nicht viel. Der, der beim Quiz alle Knochen am Sk e lett aufzählen konnte. Erinnern Sie sich?«
»Nicht so recht«, gab Mrs Hawkins zu.
»Aber Sie müssen sich erinnern. Keiner erinnert sich an ihn. Nicht mal Mr Kirby!«
Mrs Hawkins packte die restlichen Unterrichtsblätter in ihre Tasche und sagte: »Ich rechne es dir hoch an, dass du es allein machst, meine Liebe. Vergiss nicht, die A r beitsflächen abzuwischen, bevor du gehst.« Und damit verließ sie den Saal und schloss die Tür hinter sich.
Der naturwissenschaftliche Saal war sehr alt. Lange dunkle Tische aus Holz standen darin mit Gasanschlü s sen und Wasserhähnen und eingebauten Spü l becken. An den Wänden zogen sich dunkle Regale aus Holz entlang, in denen große Flaschen mit allerlei Getier ausgestellt waren. Die Tiere, die in den Flaschen, schwammen, w a ren schon ziemlich lange tot. Auch ein vergilbtes menschl i ches Skelett hing in einer Ecke des Saales. Mo wusste nicht, ob es echt war, aber so oder so schauderte ihr d a vor.
Jedes Geräusch, das sie machte, hallte in dem großen Saal wider. Sie schaltete alle Deckenlampen an, sogar das Licht über der Tafel, nur damit der Raum nicht so u n heimlich wirkte. Es wurde kühl in dem Raum. Sie wünschte, sie könnte die Heizung aufdr e hen. Sie ging zu dem großen Heizkörper hinüber und berührte ihn. Er war kochend heiß. Und trotzdem zitterte sie vor Kälte.
Der Saal war leer und diese Leere war beunruh i gend. Dennoch hatte Mo das Gefühl, als wäre sie nicht allein, als würde beobachtet.
Ja, natürlich werde ich beobachtet, dachte sie. Hu n dert tote Dinge in Flaschen glotzen mich an, ganz zu schweigen von dem Skelett. Sie sah zu den Regalen hi n auf.
In diesem Augenblick fingen die toten Tiere an, sich zu bewegen. Eine Schlange mit blinden milchigen Augen rekelte sich in ihrem Bad aus Formalin. Ein gesichtsloses stacheliges Meerestier drehte sich in se i nem flüssigen Zuhause. Ein seit Jahrzehnten totes Katzenbaby zeigte seine spitzen Zähne und drückte seine Krallen gegen die gläserne Wand.
Mo schloss die Augen. Das passiert nicht wirklich, sagte sie sich. Ich bilde mir das nur ein. »Ich habe ke i ne Angst«, sagte sie laut.
»Gut so«, sagte eine Stimme aus dem Schatten n e ben der hinteren Tür. »Es kostet einen wirklich Kraft, wenn man Angst hat.«
»Kein einziger Lehrer erinnert sich an dich«, sagte sie.
»Aber du erinnerst dich an mich«, entgegnete der Ju n ge, der Urheber ihres ganzen Unglücks.
Sie nahm ein Becherglas und warf es nach ihm, doch ihr Ziel wich aus und das Glas knallte an die Wand.
»Was macht Nick?«, fragte Bod, als ob nichts gew e sen wäre.
»Du weißt doch, was er macht. Er redet nicht mal mehr mit mir. Sagt keinen Ton in der Schule, geht gleich heim und macht seine Hausaufgaben. Bastelt wah r scheinlich an einer Modelleisenbahn.«
»Gut«, sagte Bod.
»Und du«, sagte Mo. »Du warst schon seit einer W o che nicht mehr in der Schule. Du sitzt ganz schön in der Klemme, Bob Owens. Die Polizei ist neulich gekommen. Sie haben nach dir gefragt.«
»Da fällt mir ein … Was macht dein Onkel Tarn?«, fragte Bod.
Mo antwortete nicht.
»In einer Hinsicht hast du gewonnen«, sagte Bod. »Ich verlass die Schule. Aber in anderer Hinsicht hast du nicht gewonnen. Bist
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