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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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also nicht? Wenn die Flasche leer ist?«
    »Klar merkst du es, dir geht es nämlich plötzlich ziemlich mies. Du wirst die Maske also lassen, wo sie hingehört, denn ohne sie hast du keine Chance auf den Gipfel. Dass das kein echtes Bergsteigen ist, muss ich gar nicht dazusagen. Echtes Bergsteigen kommt ohne künstliche Hilfsmittel aus. Aber du willst ja nur rauf auf den Berg und heil wieder runter, ohne dir einzubilden, zur Weltelite der Höhenbergsteiger zu gehören. Oder?«
    Marc sah ihn mit gespielter Strenge an.
    »Sind nicht auch Eispickel und Steigeisen künstliche Hilfsmittel?« fragte Jonas. »Nicht zu erwähnen die Leitern im Eisbruch?«
    »Sind sie, aber nicht so künstlich. Du wirst also im Notfall nachts in Lager 3 Flaschensauerstoff atmen. Frühmorgens steigen wir wieder in die Wand ein. Dort gibt es zwei besonders markante Punkte, zum einen das Gelbe Band, ein steiler Absatz aus Kalkstein, und den Genfer Sporn, ebenfalls ein massiver Felsvorsprung. Wenn du dort bist, hast du es bald zu Lager 4 geschafft. Das befindet sich auf dem Südsattel, etwa in 8000 Meter Höhe. Ein Ort, der, um es mal mit den Worten des Engländers zu sagen, den ich vor ein paar Jahren raufgebracht habe, landschaftlich wenig zu bieten hat.«
    »Lebt der Engländer noch?«
    »Wirklich sehr witzig. Der Wind auf dem riesigen Plateau ist stärker als auf dem Gipfel, und wenn wir das Pech haben, dort in einen Sturm zu geraten, sollten wir uns gut anschnallen, denn er kann uns auf der einen Seite über tausend Meter zum Western Cwm hinabbefördern, er kann uns aber auch östlich die Kangshung-Flanke hinunterblasen. Es gibt auf diesem Plateau nichts als Eis und Felsen. Alles, was nicht entsprechend schwer oder festgefroren ist, wird früher oder später fortgetragen. Ich habe an dieser Stelle Menschen fliegen sehen. Wie schwierig es ist, dort Zelte aufzubauen und dafür zu sorgen, dass sie stehen bleiben, kannst du dir vorstellen.«
    »Ich will mir das gar nicht vorstellen. Die Sherpas sind zähe Burschen.«
    »Spätestens jetzt befindest du dich in dem Bereich, den die Zeitungen Todeszone nennen. Das wird oft fehlinterpretiert. Sie wird nicht so genannt, weil dort besonders viele Unfälle geschehen, sondern weil dich der Berg in dieser Höhe über kurz oder lang umbringt, selbst wenn du wie ein Wickelkind in deinem Zelt liegst und dich füttern lässt. Dein Organismus hält die extremen Bedingungen nicht lange aus. Und deshalb musst du schnell sein.«
    »Was ist mit der Leichengasse?«
    »Der Begriff ist dir also schon untergekommen? Ich wollte sie nicht eigens erwähnen, ist nämlich kein angenehmer Anblick.«
    »Umso wichtiger, darauf vorbereitet zu sein.«
    »Soweit ich weiß, hast du in deinem Leben bereits Tote gesehen. Es ist im Übrigen nicht möglich, den Everest zu besteigen, ohne auf Tote zu stoßen. Die Leichen, die du am Südsattel sehen wirst, sind festgefroren. Ein Freund von mir liegt auch da oben. Ich will echt nicht darüber reden.«
    »Sind es denn wirklich so viele?«
    »Zu viele.«
    Beide aßen wie zwei Jungen ihren nächsten Schokoriegel, ohne ein Wort zu sagen.
    »Wann brechen wir vom Südsattel auf?« fragte Jonas. »Bei Sonnenaufgang?«
    Marc lachte. »Da könnten wir gleich wieder runtergehen. Wir starten um Mitternacht, sofern es das Wetter erlaubt. Andernfalls haben wir keinerlei Aussicht, es rechtzeitig auf den Gipfel zu schaffen. Das Wichtigste überhaupt bei der ganzen Unternehmung ist nämlich, dass du dir die Umkehrzeit einschärfst und sie einhältst. Wenn du es nicht bis 14 Uhr auf den Gipfel geschafft hast, drehst du um, selbst wenn er direkt vor deiner Nase steht. Wenn du weitergehst, bist du tot.«
    »Moment, ganz langsam. Wir gehen um Mitternacht los? Sind gegen 14 Uhr auf dem Gipfel? Und müssen dann erst wieder runter? Da sind wir aber eine ganze Weile unterwegs.«
    »Hat ja auch niemand behauptet, dass es ein Spaziergang wird.«
    »Vierzehn Stunden Aufstieg, in dieser Höhe, und dann wieder runter!«
    »Vieles hängt vom Wetter ab. Vieles davon, wie viele andere Teams in dieser Nacht den Aufstieg versuchen und was sich innerhalb dieser Teams abspielt. Deswegen wäre es auch so wichtig, sich unter den Expeditionsleitern abzustimmen. Aber zum einen sind Leute wie Hristo nicht besonders kompromissfähig, zum anderen machen all diese kleinen Teams, diese Zwei-Jungs-gehen-mal-zum-Everest-Teams sowieso, was sie wollen. Es könnte daher an den Fixseilen Stau geben, dann bricht das totale Chaos aus, und

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