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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Leichen, Mitternacht, Balkon, Erdkrümmung, Südgipfel, Sauerstoff, Hillary-Step, Dankbarkeit, Gipfelgrat, Umkehrzeit spätestens 14 Uhr.«
    »Perfekt. Übrigens klettern wir beide außerhalb des Teams. Wir sind ohne die anderen unterwegs.«
    »Was bedeutet das?«
    »Wir ersparen uns Rücksicht, so brutal das auch klingen mag. Wir müssen nicht warten, bis Hadan Entscheidungen trifft, die von den Interessen der ganzen Gruppe bestimmt sind. Wir gehen unser Tempo und sind unser eigenes Team, du und ich. Ein Zweierteam, so wie im guten alten klassischen Bergsteigen.«
    »Ich habe aber nichts gegen die anderen. Und ich passe gern auf andere auf.«
    »Ich habe auch nichts gegen die anderen, und ich passe auch gern auf andere auf, und wenn jemand in Not gerät, helfe ich ihm, so gut ich kann, egal wer es ist. Trotzdem bin ich lieber unabhängig. Du wirst genug damit zu tun haben, auf dich selbst aufzupassen.«
    Sie wurden von einem der Südamerikaner unterbrochen, der zufällig vorbeigekommen war und wissen wollte, wann sie aufbrechen würden. Es stellte sich heraus, dass Oscars Gruppe sich denselben Gipfeltag ausgesucht hatte wie Hadan. Marc konnte seinen Zorn kaum zurückhalten.
    »Ich dachte, ich hätte das mit ihm besprochen. Er wollte einen Tag früher gehen. Ihr seid achtzehn Leute, Hadan hat zwanzig, dazu die Sherpas, das ist absurd.«
    »Es war nicht meine Entscheidung«, sagte der Mann, den Marc nun als Gustavo vorstellte.
    »In Ordnung«, sagte Marc. »Ich rede noch mal mit ihm. Ihr seid doch stark, ihr könnt durchaus einen Tag früher gehen.«
    »Ich richte es ihm gleich aus«, sagte Gustavo und stapfte davon.
    Marc schüttelte den Kopf.
    »Lauter Chaoten. Übrigens, dein Husten ist besser geworden, nicht wahr?«
    »Paco hat mir Steroide und bronchienerweiternde Mittel gegeben. Helen weiß nichts davon, also tu mir den Gefallen und erwähne es nicht.«
    Auf dem Hang gegenüber ging grollend eine Lawine ab. Einige Trekker, die gerade eingetroffen waren und diesen Anblick noch nicht kannten, schrien begeistert durcheinander und zückten ihre Fotoapparate. Marc nickte einer auffallend hübschen Frau zu, die am Nebentisch Platz genommen hatte, riss die Folie seines dritten Eiweißriegels auf und biss in die Schokolade. Ungeniert schmatzend sagte er:
    »Hätte ich mir nicht gedacht, damals in Hossegor. Dass wir mal hier sitzen würden.«
    »Ich habe es zumindest nicht ausgeschlossen.«
    »Als wir uns das erste Mal begegnet sind?«
    »Damals war der Gedanke an den Everest längst in meinem Kopf. Wenn einem dann bei einer Freundin ein Himalaya-Bergsteiger über den Weg läuft, stellt man sich vieles vor.«
    »Und ich frage dich noch einmal, wieso hast du mich nicht angerufen, sondern dich bei Hadan eingekauft?«
    »Weil ich Hadan mag. Und wegen Helen. Hat sich halt irgendwie ergeben.«
    »Ihr hattet etwas miteinander.«
    »Wieso interessiert dich das so? Das ist doch unwichtig.«
    »Für dich vielleicht, ich finde so etwas immer interessant. Und gab es nicht noch einen Grund?«
    Jonas zögerte mit der Antwort.
    »Hatte es etwas mit mir zu tun?«
    »Nein.«
    »Was war es dann?«
    »Ich wollte allein sein.«
    »Ist das noch immer so?«
    »Nein. Ich bin ziemlich froh, dass du da bist.«
    »Ich auch«, sagte Marc und winkte dem Kellner, der gerade begonnen hatte, vor zwei Bulgarinnen mit Whiskyflaschen zu jonglieren. »Du bist einer von denen, die gern oben bleiben.«
    »Was soll das denn bedeuten?«
    »Es gibt Menschen, die da oben eher festfrieren als andere. Leider zählst du zu ihnen, und es freut mich, dass ich das verhindern werde.«

42
     
    Kurz nach Piccos Beisetzung packte Jonas seine Reisetasche. Er fuhr zum Flughafen, um den nächstbesten Flug zu buchen.
    »Hin- und Rückflug?« fragte die Frau in der roten Uniform.
    »Einfach, bitte.«
    »Weihnachten in Rom? Das klingt nett.«
    »Weihnachten? Ist es denn bald soweit?«
    »In acht Tagen. Haben Sie denn keinen Adventskalender gekriegt?«
    »Wenn Sie mir Ihre Adresse sagen, schreibe ich Ihnen eine Karte.«
    Er hätte nicht damit gerechnet, doch sie kritzelte tatsächlich etwas auf ein leeres Ticketformular und wandte sich hastig einem Mann zu, der hinter sie getreten war und bei dem es sich offensichtlich um ihren Chef handelte.
    In Rom brachte ihn ein Arien singender Taxifahrer in die Innenstadt. Jonas aß am Campo de’ Fiori, und als es dunkel wurde, nahm er sich ein paar Schritte weiter auf dem Corso Vittorio Emanuele ein Zimmer. Anstatt am Abend auszugehen,

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