Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
am Ende gibt es Tote. Wäre ja nicht das erste Mal. Deswegen musst du unter allen Umständen die Umkehrzeit einhalten. Ich werde dich am Kragen runterschleifen, wenn es sein muss, doch sollte ich aus irgendeinem Grund nicht bei dir sein, hältst du dich gefälligst an das, was ich gesagt habe, sonst kommst du nicht zurück.«
    »Sonst komme ich nicht zurück?«
    »Jonas, das ist kein Witz. Wenn du bei Einbruch der Dunkelheit nicht wieder im Lager bist, überlebst du die Nacht nicht. Dann sitzt du auch bei denen da oben.«
    »Glaube ich nicht. Du würdest mich bestimmt später runterschaffen.«
    »Ich bin ja nicht blöd. Ein solcher Versuch wäre vollkommen aussichtslos und würde mich bloß in Gefahr bringen. Wenn es so kommt, sitzt du eben ewig da oben, das kann ich dann auch nicht mehr ändern. Dir muss bewusst sein, dass ich ab einer gewissen Höhe nur mehr begrenzte Möglichkeiten habe, dir zu helfen. Von da oben muss man selbst wieder runtergehen, sonst bleibt man dort. Ich kann dich nicht auf meine Schultern packen und hinuntertragen, es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es hat hier schon einige herzzerreißende Szenen gegeben zwischen Menschen, die sich gegenseitig im Stich lassen mussten, um wenigstens das eigene Leben zu retten, und ich garantiere dir, ich werde das auch tun, ich werde nicht aus Solidarität mitsterben, das kannst du schön allein machen. Damit das nicht passiert, wirst du brav alles tun, was ich sage, sobald wir losgegangen sind, darauf gibst du mir dein Wort.«
    Jonas schüttelte die dargebotene Hand.
    »Sind auf der Route Fixseile angebracht?«
    »An sehr vielen Stellen. Auf die würde ich mich jedoch nicht verlassen. Bleib wachsam. Ich weiß, dir ist viel zuzutrauen, du hast immerhin den Aconcagua geschafft, und das ist ein schwerer und widerlicher Berg. Hier bist du aber noch mal zwei Kilometer höher. Du musst ständig deine Wahrnehmung überprüfen. Wenn dir ein dreiköpfiges Huhn oder Kaiser Barbarossa erscheint, sagst du Bescheid, und wir drehen auf der Stelle um.«
    »Wieso sollte ich Bewusstseinstrübungen haben? Ich atme ja den Flaschensauerstoff.«
    »Und was meinst du, was da drin ist, irgendein Zaubergas? Der lässt dich zwar die 8000 Meter wie 7000 erleben, aber 7000 Meter sind auch keine Kinderei. Es kann viel passieren, und vor einem Ödem in der Lunge oder im Hirn schützt dich der Sauerstoff nicht.«
    »Verstanden. Was muss ich noch wissen?«
    »Auf der Route zum Gipfel passierst du den sogenannten Balkon auf etwa 8500 Metern. Je nach Wetter und Uhrzeit solltest du dort eine gute Aussicht auf die Erdkrümmung haben. Es gibt nur ein paar Berge, auf denen man sie sehen kann, sonst muss man sich für dieses Vergnügen in ein Flugzeug setzen. Ich finde diesen Moment immer sehr ergreifend. Er macht mir bewusst, wo ich bin.«
    »Darauf freue ich mich am meisten, fast mehr als auf den Gipfel.«
    »Der Südgipfel liegt auf 8700 Meter, dort werden wir frische Sauerstoffflaschen vorfinden. Die schwierigste Passage ist vermutlich der Hillary-Step, wo viele Bergsteiger schon zu schwach sind, um sich an den Fixseilen nach oben zu ziehen, also mach dir die Leistung derer bewusst, die da frei hochgeklettert sind und diese Seile angebracht haben. Manche der Amateure stürzen hier auch beim Rückweg ab. Jedenfalls eine Stelle mit Stau- und Katastrophenpotential. Warum schaust du so, überlegst du dir, wie du das mit deiner Rippe schaffen sollst?«
    »Die Rippe ist kein Problem. Mach nur weiter.«
    »Nun haben wir den Gipfelgrat vor uns, da brauchst du echt starke Nerven. Links und rechts geht es zweitausend Meter hinunter, und das auf einem Weg von fünfhundert Metern, während du vom Wind immer wieder außer Tritt gebracht wirst. Ein falscher Schritt, und du hast etwas sehr Unangenehmes vor dir.«
    »Und der Gipfel?«
    »Der ist nur bei absolut klarem Wetter wirklich spektakulär. Das innere Gefühl natürlich, das ist einzigartig, das vergisst man nie. Trotzdem, dort oben ist es unglaublich gefährlich. Wir schießen das Gipfelfoto und sehen zu, dass wir so schnell wie möglich nach unten kommen. So, was hast du dir gemerkt?«
    Marc klopfte mit dem Kugelschreiber auf seine Armbanduhr.
    »Die Umkehrzeit natürlich«, sagte Jonas. »16 Uhr.«
    Marc wollte anfangen zu schimpfen, doch ein Blick in Jonas’ Gesicht brachte ihn zum Lachen.
    »Ab Lager 3 gibt es aber keine Witze mehr, ich hänge an meinem Leben. Was hast du dir noch gemerkt?«
    »Gelbes Band, Genfer Sporn, Südsattel, Wind,

Weitere Kostenlose Bücher