Das größere Wunder: Roman
blieb. Es waren jene Wochen, in denen die Jahreszeiten noch miteinander rangen, in denen es an einem Tag strahlend sonnig war und anderntags kalter Morgenwind aufzog, der einem unfreundlich ins Gesicht peitschte.
Jonas lag wie betäubt im Baumhaus und dachte an jene, mit denen er so oft hier gewesen war. Zach lehnte unten am Stamm des alten Kastanienbaums und versuchte vergeblich, Jonas nach unten zu locken. Schließlich kletterte er hoch.
»Wie hältst du das Gejaule aus?« rief er und schlug auf das Radio. »Davon wird man ja trübsinnig!«
Jonas drehte das Gesicht auf die andere Seite. Durch ein Astloch im Boden konnte er hinabsehen, auf die Brombeersträucher, in denen sie sich früher versteckt hatten, auf einen verschlissenen, lehmigen Fußball, schon lange unberührt, auf etwas Kleines, Glänzendes in der Wiese, in dem er eines von Mikes Matchbox-Autos vermutete.
»Ich würde gern mal mit dir über Selbstmitleid reden«, sagte Zach.
»Ich bin nicht selbstmitleidig, ich versuche den Dingen bloß auf den Grund zu gehen.«
»Keine Ahnung, was das heißen soll, ist ja auch egal. Ich fürchte jedenfalls, wir müssen uns darauf vorbereiten, dass die Lage nicht besser wird.«
»Was meinst du?«
»Der Alte.«
»Er wird sterben, nicht?«
»Sieht leider danach aus.«
Jonas drehte sich zu Zach um.
»Wieso das alles?« fragte er.
Zach zuckte die Schultern. »Mit solchen Fragen kommst du nicht weit.«
»Mit welchen dann?«
»Ich glaube, mit keiner. Er sagt ja immer, Antworten werden überschätzt. In dem Fall dürfte er recht haben.«
Sie schwiegen eine Weile, ohne einander anzusehen. Irgendwo unter ihnen klopfte Regina einen Teppich aus.
»Sie haut noch immer ganz anständig zu, wie?«
»Ja«, sagte Jonas. »Tut sie.«
»Noch ist es nicht soweit«, sagte Zach.
Er strich Jonas über den Kopf und kletterte wieder hinunter.
Jonas schaltete das Radio an, legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete die Insekten, die um die Laterne schwirrten.
Wann bin ich dran, dachte er, morgen? In zehn Jahren? In hundert?
Es fiel Jonas inzwischen schwer, Picco gegenüberzutreten. Er sah gezeichnet aus, ausgemergelt, erschöpft und leer, wie ein sterbender Vogel, fand Jonas, wie ein stolzes Tier, das den Tod nahen fühlt. Doch der Boss versteckte sich nicht, er zeigte nicht, wie sehr er litt, er klagte nicht und war sichtlich noch nicht am Ende seiner geistigen Reserven angelangt.
Nein, dachte Jonas, nein, nein, nein.
Es kam sein achtzehnter Geburtstag.
Er hatte gewusst, es würde bald geschehen, er hatte es geahnt, gefühlt, befürchtet, gewusst. In der Woche zuvor hatte sich Picco kaum gezeigt, er war in seinem Zimmer geblieben, nur Regina war zweimal bei ihm gewesen und hatte danach kein Wort gesprochen.
Nach dem Frühstück erschien Hohenwarter. Er führte Jonas ins Arbeitszimmer und bat ihn zu warten. Kurz darauf geleitete er Picco herein. Jonas sprang auf, um zu helfen, doch der Boss bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
Nachdem Hohenwarter sie allein gelassen hatte, nickte Picco langsam.
»Heute.«
Jonas schnürte es die Kehle zusammen.
»Das ist aber kein schönes Geburtstagsgeschenk«, sagte er.
»Ist mir klar. Und würde ich Entschuldigungen nicht grundsätzlich so negativ gegenüberstehen, würde ich jetzt sagen, dass es mir leid tut. Es gibt eine so einfache wie bittere Erklärung dafür. Wenn ich es nicht heute tue, habe ich es nicht mehr selbst in der Hand. Spätestens morgen liege ich in einem Krankenhausbett, in mir stecken unzählige Schläuche, ich wache nur noch alle paar Stunden kurz auf und habe keine Kontrolle mehr über mein Leben. Das war ich jedoch immer gewöhnt, und ich werde kurz vor Schluss keine Ausnahme machen.«
»Ich verstehe«, sagte Jonas und zwang sich, nicht wegzusehen. Picco anzusehen und das schaurige dunkle Bild hinter ihm, das an diesem Tag noch größer wirkte als sonst.
Diese Augen. Sie werden morgen um diese Zeit nichts mehr sehen. Diese Nase, diese Ohren, dieses unrasierte Kinn, sie werden morgen tot sein. Fast tote Nase, bald tote Ohren, so gut wie totes Kinn. Jetzt spricht der Mund. Morgen wird diese Stimme Geschichte sein und nie wieder gehört werden. Finger bewegen sich, morgen nicht mehr, ab morgen verwesen sie, obwohl der, dem sie gehören, sie gerade noch ansieht und sie sich bewegen sieht. Und obwohl er weiß, was ich weiß, sieht er seine bald starren Finger und hört seine bald vergehende Stimme, und diese Welt
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