Das größere Wunder: Roman
verlangte er vom Rezeptionisten das Branchenverzeichnis und schrieb sich die Nummern einiger Immobilienmakler heraus. Er legte sich früh ins Bett und dachte an die Zeit, als er ein Kind gewesen war. An die Klänge, an die Gerüche, an die Übersichtlichkeit der Dinge.
Die nächsten zwei Tage fuhr er auf einem gemieteten Scooter von Adresse zu Adresse, bis er gefunden hatte, was er suchte. Eine Wohnung nahe der Engelsburg, zwei Zimmer, hohe Räume, ein bisschen schäbig und abgewohnt, doch mit Telefon und Waschmaschine und sofort bezugsbereit. Er unterschrieb den Vertrag an Ort und Stelle, blätterte die Vermittlungsgebühr bar auf den Tisch und bekam die Schlüssel ausgehändigt.
Tags darauf schrieb er Zach, er solle sich keine Sorgen machen, wenn er eine Weile nichts von ihm hörte, und ging einkaufen. Er besorgte Briefpapier, kistenweise Hygieneartikel, Reinigungsmittel, Wäsche, mehr als ein Dutzend Fremdsprachenlehrbücher sowie den halben Bestand der englischsprachigen Buchhandlung. Er kontrollierte, ob er genug Bargeld hatte, und schloss die Tür.
Das ist es. Dieser Moment. Diese Türklinke, heute, jetzt. Dieser Geruch nach gebratenem Fisch im Treppenhaus, der zu dir hereindringt, jetzt. Deine Stirn, die an der Tür lehnt, jetzt.
Er verließ die Wohnung zwei Jahre lang nicht.
Niemand wusste, wo er war, er rief niemals zu Hause an. Er öffnete die Fenster, um zu lüften, doch er schaute nie auf die Straße. Er kannte die Geräusche und Stimmen seiner Nachbarn, er war ebenso vertraut mit den Duschgewohnheiten der jungen Frau nebenan wie mit ihren wechselnden, oft von Auseinandersetzungen geprägten Liebschaften, er hörte am Husten des alten Mannes über ihm, ob dieser erkältet war oder bloß am Vorabend zuviel geraucht hatte, er kannte die Streitigkeiten der Familie unter ihm, die meist das Ausgehverhalten der ältesten Tochter zum Inhalt hatten, doch zu Gesicht bekam er niemanden, die ganze Zeit über nicht.
Das Essen brachte der Lieferdienst. Sooft wie möglich rief Jonas eine andere Pizzeria an, damit ihn die Boten nicht wiedererkannten und es zu keinen Vertraulichkeiten kam. Er machte Liegestütze und lief Hunderte Male am Tag die sieben Meter zwischen Bett und Wohnungstür hin und her.
Griechisch. Japanisch. Türkisch. Arabisch. Nepali. Hindi. Mandarin. Suaheli. Norwegisch. Schwedisch. Ungarisch und Finnisch. Russisch. Serbokroatisch. Spanisch. Italienisch. Slowakisch. Polnisch.
Oft lag er auf seinem Bett und schaute zur Decke.
Das ist eine römische Decke.
Es gibt sie schon lange.
Es gibt sie länger als mich.
Viele haben sie gesehen.
Viele werden sie sehen.
Ihnen allen ist die Decke egal.
Weil sie nur eine Decke ist.
Ich bin jetzt hier.
Mir ist die Decke nicht egal.
Ich bin der Decke egal.
Am 18. Dezember hatte er sich eingeschlossen, am 18. Dezember zwei Jahre darauf packte er ohne Hast seine Sachen. Bis auf einen abgekauten Bleistift, den er in der ersten Woche auf einem Regal gefunden hatte, ließ er alles, was aus Rom war, hier, auch die Kleidung, er nahm nur mit, was er von zu Hause mitgebracht hatte. Er legte Geld für die Reinigung auf den Tisch, zuletzt machte er Fotos.
Das Bett. Der Schrank. Die Decke. Das Zimmer.
Die Küche, der Herd, der Tisch.
Das Bad, die Waschmaschine, die Dusche.
Das Fenster, aus dem er nie auf die Straße gesehen hatte, kein einziges Mal.
Er ging hin und schaute auf die Straße.
Er fühlte Schwindel. Es war angenehm.
Nachdem er die Schlüssel beim Makler abgegeben hatte, rannte er nach Fiumicino. Er lief neben der Straße, die Reisetasche auf dem Rücken. Autos hupten, Menschen kurbelten die Fenster hinunter und riefen ihm aufmunternde Witze zu. Er schlief in einem Hotel am Flughafen, flog nach Buenos Aires, ging in die nächste Toilette, betrachtete das Waschbecken und den Spiegel und dachte: Das ist eine Toilette in Buenos Aires. Dann flog er zurück, mit der nächsten Maschine.
In Fiumicino, wo alles so aussah wie zwei Tage zuvor und wo er doch das Gefühl hatte, etwas völlig anderes zu sehen, bekam er ein Ticket nach Oslo. Als er es einsteckte, fand er den Zettel, auf dem die Frau im Reisebüro ihm damals ihre Adresse notiert hatte. Sie hieß Irene.
Einige Minuten blieben ihm noch. Er sprintete mit seiner Reisetasche zum nächsten Laden, fand eine Weihnachtskarte, schrieb ein paar Zeilen, fügte die Adresse hinzu und bat die Frau, die hinter ihm wartete, die Karte für ihn mit einer Marke zu versehen und
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