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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ist eine einzige Unfassbarkeit.
    »Wenn du Fragen hast, solltest du sie jetzt stellen«, sagte Picco.
    »Fragen?«
    »Was immer du fragen willst. Vielleicht lange fragen wolltest. Jetzt wäre ein geeigneter Zeitpunkt. Nächste Woche wäre ungünstig.«
    Jonas hustete, seine Finger zitterten. Er verschränkte die Arme und bemühte sich, nicht zu weinen.
    »Sei nicht traurig«, sagte Picco leise.
    »Bin ich aber«, sagte Jonas und begann zu weinen.
    »Das solltest du nicht«, sagte Picco.
    »Ich bin es aber!«
    »Ich liebe dich, mein Junge«, sagte Picco.
    »Ich dich auch«, sagte Jonas und schluchzte.
    »Sei nicht traurig, Trauer kostet Kraft und erstickt allen Elan. Was deine Zukunft betrifft, musst du dir über die materielle Seite keine Gedanken mehr machen. Hohenwarter hat letzte Woche so gut wie alles erledigt, und um den Rest kümmert er sich heute Vormittag. Tatsächlich bin ich nun ein armer Mann und du reicher, als du es dir ausmalen kannst. Du wirst dich wundern.«
    »Ich pfeif auf Geld!« stieß Jonas hervor.
    »Ich weiß. Aber es kann nicht schaden, welches zu haben. Man kann viele gute Dinge damit tun.«
    »Solange man lebt, ja«, sagte Jonas und schneuzte sich.
    »Man sorgt eben vor seinem Tod dafür, dass das Geld in die richtigen Hände kommt«, sagte Picco aufgeräumt.
    »Ja, ja, ja.«
    »Geht’s wieder?«
    »Na ganz wunderbar geht’s.«
    »Also, hast du Fragen?«
    Unter Tränen lachte Jonas. »Wieso hast du uns immer alles durchgehen lassen? Wir hätten ja den ganzen Ort niederbrennen können!«
    »Eine sehr gute Frage. Zwei Gründe gab es dafür. Erstens wollte ich, dass ihr Menschen werdet, die sich vor nichts und niemandem fürchten, solche, die es mit Teufeln und Mördern und Schatten aufnehmen. Ich fand schon immer den Gedanken tröstlich, dass es irgendwo da draußen Menschen gibt, die andere retten, weil sie auf eine rätselhafte Weise stärker sind, Menschen, die Dinge tun, die andere nicht können, und damit mir und anderen Mut machen. An Gott glaube ich nicht, aber an den Teufel. Den gibt es, den habe ich oft gesehen, und ich will, dass es Menschen gibt, die sich nicht vor ihm fürchten, das ist sich das Menschengeschlecht selbst schuldig.«
    »Und du meinst, deine Erziehungsmaßnahmen …«
    »Der zweite Grund war: Ich fand es wahnsinnig komisch. Besser als Fernsehen! Was ich gelacht habe. Es hat solchen Spaß gemacht, zuzusehen, wie ihr den halben Ort terrorisiert und niemand sich einzuschreiten traut, hahahaha! Das hätte ich mir als Kind auch gewünscht.«
    »Glaubst du, dass ich mich vor keinem Teufel fürchte? Da muss ich dich vielleicht enttäuschen, ich bin mir da nicht so sicher.«
    »Das kannst du noch gar nicht wissen. Außerdem darfst du das nicht zu wörtlich nehmen. Ich wünschte mir, ihr werdet Menschen, die nie aufgeben, selbst wenn tausend Teufel gegen sie ziehen. Werner war so. Und du bist so. Anders als mein eigener Sohn, Werners Vater. Ich bin stolz auf dich. Sehr sogar.«
    Jonas sagte nichts.
    »Werners Vater hat eine Verzichtserklärung für das Erbe unterschrieben, schon vor langer Zeit. Falls du dich wunderst.«
    »Ich will nichts! Ich brauche nichts! Mir ist Geld nicht wichtig!«
    »Das glaube ich dir, aber mir ist wichtig, dass du welches hast. Weitere Fragen?«
    Fragen, welche Fragen, was konnte er fragen, was wollte er wissen? Die Gedanken jagten durch seinen Kopf, keiner ließ sich fassen.
    Doch, da war einer.
    Jonas zögerte.
    »Frag nur, wenn du die Antwort erträgst«, sagte Picco.
    »Ja. Auf alle Fälle ertrage ich die Antwort, ich ertrage jede Antwort. Wie war das mit meiner Mutter?«
    »Das willst du wirklich wissen?«
    »Deshalb frage ich.«
    »Sie kam zu mir, nicht umgekehrt. Nachdem du ins Krankenhaus gekommen warst, hat sie mich gebeten, euch aufzunehmen. Sie war überfordert. Das waren ihre Worte.«
    »Und dann hat sie uns einfach … weggegeben?«
    »So sieht es aus.«
    »Das ist allerdings nicht ganz leicht zu hören.«
    »Ich weiß. Jonas, wir haben nicht viel Zeit.«
    »Was ist eigentlich mit dem Kerl passiert, der mich damals ins Krankenhaus geprügelt hat? Dem Freund meiner Mutter?«
    Piccos Miene wurde hart.
    »Alles musst du doch nicht wissen. Noch Fragen offen?«
    Kopfschüttelnd saß Jonas da und raufte sich buchstäblich die Haare.
    »So viele hatte ich immer, und jetzt sind sie alle weg! Mir fällt nichts ein.«
    »Antworten werden ja sowieso überschätzt«, sagte der Boss und stand mühsam auf.
    Sie umarmten sich. Den Geruch, den Picco

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