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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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einzuwerfen. Er warf ihr die Karte und einen Geldschein in die geöffnete Handtasche und rannte Richtung Sicherheitskontrolle.
     
    In Oslo brach schon nachmittags gegen halb vier die Dämmerung an. Jonas nahm sich ein Zimmer und ging essen. Alles erschien ihm neu, die Töne, die Gerüche, die vielen Menschen, und er fühlte sich wohl unter ihnen. Er gehörte zu ihnen, wenigstens für ein paar Stunden.
    Am Nebentisch unterhielten sich drei junge Frauen, offenbar schon jetzt für den Abend zurechtgemacht, zwei trugen extrem kurze Röcke, die dritte eine durchsichtige Bluse und enge Jeans. Eigentlich wollte Jonas nicht zuhören, doch eine von ihnen war so hübsch, dass er es sich nicht verkneifen konnte, immer wieder hinzusehen. Wie er zu seinem grenzenlosen Erstaunen feststellte, redeten sie über Baumhäuser. Ohne lange nachzudenken sprach er die Frau einfach an.
    »Du baust wirklich Baumhäuser?«
    »Ich bin Baumhausarchitektin«, lautete die Antwort. »Und du verstehst Norwegisch?«
    Die zwei anderen Frauen kicherten, die Architektin jedoch betrachtete Jonas mit sichtlichem Interesse.
    »Hast du tatsächlich etwas für Baumhäuser übrig, oder war das nur ein Vorwand?«
    »Beides irgendwie. Kann ich bei dir ein Baumhaus bestellen?«
    »Das kostet viel Geld.«
    »Mit welcher Summe muss ich denn rechnen?«
    »Kommt drauf an, wie groß es sein soll und wo du es haben willst.«
    »Riesig. Wo, weiß ich noch nicht genau.«
    »Riesig kostet eine halbe Million Dollar.«
    »Sagen wir eine ganze Million, und du machst es noch ein Stockwerk höher.«
    Sie lachte. Er streckte ihr die Hand entgegen und nannte seinen Namen. Sie hieß Tic, ihre Freundinnen stellte sie als Dolly und Gloria vor. Nur Tic war gebürtige Norwegerin, Dolly und Gloria stammten aus den USA.
    Nach dem Essen gingen sie gemeinsam in eine Bar, danach zeigten die Frauen Jonas das Nachtleben von Oslo. Um sieben Uhr morgens wollte Tic nach Hause, doch sie verabredeten sich gleich für den nächsten Abend in einem Club.
    Er fuhr mit dem Taxi ins Hotel, frühstückte, ging nach oben, duschte lange und schaltete den Fernseher ein. Mehr als eine Stunde lang sah er sich einen alten Western an, ohne das geringste Detail von der Handlung mitzukriegen, er dachte nur an diese dunkelhäutige Frau mit dem langen Haar.
    Nachdem er ein paar Stunden geschlafen hatte, mietete er eine Fünfzimmerwohnung in der Nähe des Königlichen Schlosses und des Grand Café. Bis auf einen alten Mahagonitisch, auf dem verblichene Zeichnungen lagen, war sie völlig leer. Er legte den Bleistift und die Fotos aus der Wohnung in Rom dazu.
     
    Nach ein paar Tagen mit Tic verließ er Oslo und flog über Wien nach Hause. Zufällig waren alle unterwegs, Zach, Gruber und sogar Regina, und er traf nur eine Frau an, die er nicht kannte und die sich als Zachs Freundin vorstellte.
    »Und Sie wohnen hier?« fragte er.
    Die Frau wirkte eingeschüchtert.
    »Ja, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Was hat Ihnen Zach, ich meine, Ihr Freund, denn über mich erzählt? Ich freue mich sogar sehr, wenn Sie hier sind, ich konnte ihn mir nur nie mit einer Frau vorstellen.«
    »Ich frage mich gerade, ob das ein Kompliment ist.«
    »Klingt wirklich nicht danach. Ist aber eins, glaube ich.«
    Er ging nach oben in sein Zimmer, wo er seine Hosen und Hemden der vergangenen zwei Jahre in den Schrank legte und frische Sachen auswählte, die er in eine andere Reisetasche packte. Er warf noch einen Blick in Mikes Zimmer. Nichts hatte sich verändert.
    Komisch, dachte er, mir gehört so vieles, mir gehört sogar jeder Zentimeter dieses Hauses, aber es ist mir egal.
    »Sie wollen doch nicht schon wieder weg?« fragte die Frau.
    »Sagen Sie bitte allen, ich komme bald wieder, und grüßen Sie sie von mir.«
    »Feiern Sie Weihnachten nicht mit uns?«
    »Seit wann wird hier Weihnachten gefeiert? Der Boss rotiert im Grab. Frohes Fest!«
    Am Flughafen hatte er plötzlich keine Lust, gleich wieder in ein Flugzeug zu steigen. Er fuhr zum Bahnhof und kaufte sich eine Karte für den Zug nach Amsterdam. Dort nahm er sich vor, achtundvierzig Stunden ohne Unterbrechung in der Stadt spazieren zu gehen, und er schaffte es.
    Er fuhr weiter nach Brüssel, blieb wegen eines Fieberschubs einen Tag länger als geplant, nämlich drei, fuhr weiter nach Paris, verbrachte dort knapp eine Woche. Zu Silvester lag er in einem schmalen Hotelbett, das bei jeder Bewegung krachte, hörte den Feiernden auf der Straße zu und stellte sich vor, wie schön

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