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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sogar ein wenig gefallen.«
    »Es gefällt mir nicht, aber es beunruhigt mich auch nicht. So ist die Welt. So ist der Everest.«
    »Hast du dich schon einmal getäuscht?« fragte Marc. »Bist du bei deinen Ahnungen schon mal danebengelegen?«
    »Vielleicht ein- oder zweimal«, räumte Paco ein.
    »Und was ist mit mir?« fragte Marc. »Schaffe ich es oder nicht?«
    Paco nahm drei schnelle Züge von seiner Zigarette und kniff die Augen zusammen.
    »Seltsam, bei dir spüre ich gar nichts. Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es bei dir schon selbstverständlich, dass du da hoch- und wieder runterspazierst wie andere bei einem Sonntagsausflug ins Grüne.«
    »Und welche Farbe hat meine Aura? Ich hoffe doch, sie erstrahlt in den leuchtendsten Farben!«
    »Du sollst nicht spotten, mein Freund! Ich muss los, auf mich warten noch andere Patienten. Es gibt hier ja Menschen, denen es wirklich schlechtgeht.«
    Er stand auf und schüttelte Jonas und Marc die Hand. »Alles Gute, falls wir uns nicht mehr sehen.«
    »Hast du deinen Wimpel angebracht?« fragte Jonas.
    »Er ist unterwegs zu seinem Bestimmungsort«, sagte der Arzt feierlich und winkte ihnen zum Abschied.
    »Er hat mich doch jetzt gar nicht untersucht, oder?« fragte Jonas.
    »Braucht er nicht. Er ist immerhin aurasichtig. Freust du dich? Er sagt, du schaffst es nach oben.«
    »Dann steht es jetzt eins zu eins.«
    »Inwiefern?«
    »Eine Sherpafrau hat mir Unheil prophezeit, wenn ich hochgehe.«
    »Ach, die reden so viel.«
    Nun endlich wollte sich Jonas überwinden und seine Sachen im Zelt ordnen, doch Marc schlug einen Besuch der Buddha Bar vor, wo am Vorabend nach einigen Tagen wieder die schöne Kellnerin aufgetaucht war.
    »Sei kein Sack, du musst mitkommen«, sagte Marc. »Es fällt auf, wenn ich da jeden Tag allein rumhänge.«
    »Seit wann stört es dich, aufzufallen?«
    »In diesem Fall schon. Eine Frau, der man zu früh zeigt, wie sehr man sich für sie interessiert, wendet sich ab. Man muss ihren sportlichen Ehrgeiz wecken. Dann wird es ein offener Wettkampf.«
    Der Kerl hat komische Sorgen, dachte Jonas und steckte ein paar Dollarscheine ein.
    Schon als sie sich in der Bar an einem Klapptisch niederließen, bereute er jedoch, dass er sich zu diesem Abstecher hatte breitschlagen lassen, denn auf einem Hocker ganz in seiner Nähe erkannte er den Engel, einen dicken österreichischen Aristokraten, dessen zarte Gesichtszüge und goldene Locken ihm seinen Spitznamen eingetragen hatten und der einen gewissen Ruf genoss. Jonas hatte mehrere Abende in seiner Gesellschaft verbracht und mochte ihn, doch im Augenblick erschien ihm der Engel als Teil einer fernen Welt.
    Wie war dieser umtriebige Mensch mit seiner ganzen Leibesfülle bloß hier heraufgekommen? Und wer begleitete ihn?
    Bei der Vorstellung, Marie könnte bei ihm sein, wurde ihm buchstäblich schwindelig vor Angst.
    Bis vor einigen Minuten war er davon überzeugt gewesen, es wäre unmöglich, ihr hier zu begegnen. Zwar verabscheute sie die Berge nicht gerade, aber für längere Wanderungen hatte sie wenig übrig, und das Basislager des Mount Everest, so hätte er gedacht, war für sie vollkommen unerreichbar. Doch nun nahm die Zahl der Gesichter, die er kannte, ständig zu, und das machte ihn nervös. Um nichts in der Welt wollte er sie treffen, schon bei dem geringsten Gedanken an sie fühlte er jenes Ziehen zwischen Brust und Magen, von dem er nur zu gern gewusst hätte, wann es endlich schwächer werden würde.
    Liebeskummer endet, hatten alle gesagt. Das gibt sich. Nach drei Monaten bist du darüber hinweg. Von einem Tag auf den anderen wird wieder alles gut sein.
    Lauter Fehlinformationen, wie er feststellen musste. Jedes Mal, wenn er unvermittelt an sie dachte, war es, als würde etwas seinen Brustkorb einzwängen, auch jetzt noch, neun Monate, zwei Wochen, drei Tage und ein paar Stunden nachdem sie gegangen war. Und was sollte er mit der Frau reden, die ihn verlassen hatte? Guten Tag, ich hätte dich gern zurück? Das wusste sie vermutlich.
    »Was drehst du ständig den Kopf herum wie ein Rabe?« fragte Marc.
    »Ich halte Ausschau.«
    »Und wonach?«
    »Nach der Bedienung. Nach dem tätowierten Rastakellner.«
    »Der steht da drüben. Alles in Ordnung?«
    »Nein. Da drüben sitzt jemand, von dem ich nicht gesehen werden möchte.«
    »Hier sitzt ein ganzer Haufen Leute, von denen ich nicht gesehen werden möchte, aber was soll ich machen. Wo steckt diese Kellnerin? Hat die nur abends Dienst? Ich glaube

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