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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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allmählich, das ist gar keine Bergsteigerin, die ist wirklich bloß Kellnerin. Was soll’s, ich werde wohl bis zum Abend hier sitzen müssen.«
    »Ich bestimmt nicht.«
    »Du musst nicht nervös werden. Wir haben alles im Griff. He, Meister! Bring uns zwei Chang! Oder nein, gleich vier! Und sag mir, wo ist denn deine Kollegin von gestern Abend?«
    »Ina? Die kommt erst später«, sagte der Kellner und machte sich daran, die vollen Aschenbecher an den Nachbartischen einzusammeln.
    »Vier Chang?« wiederholte Jonas. »Findest du nicht, du übertreibst ein bisschen?«
    »Du siehst doch, wie lange das hier dauert.«
    »Ich wollte sowieso nur eines trinken. Mit den restlichen drei kannst du dich dann ja an die Kellnerin heranpirschen.«
    »Was ist denn los mit dir? Du warst doch nie einer, den man zu Partys prügeln musste.«
    »Da hatte ich auch nie vor, sechsunddreißig Stunden später auf den Mount Everest zu steigen.«
    »Wenn man es so betrachtet, hast du recht.« Marc schien mit der Zunge in seinem Gebiss nach Überresten des Mittagessens zu suchen. »Übrigens, da ist etwas, das ich dir zu sagen vergessen habe. Solltest du dir da oben mal die Lippen einschmieren, bleib mit den fettigen Fingern von den Ventilen der Sauerstoffflaschen weg.«
    »Wieso, gehen sie sonst kaputt?«
    »Nein, es bläst dir sonst den Kopf weg.«
    »Was redest du denn schon wieder? Es bläst mir den Kopf weg?«
    Marc nickte und untermalte seine Aussage mit drastischer Gestik. Ehe Jonas nachfragen konnte, hörte er hinter sich seinen Namen, im nächsten Moment tippte ihm jemand auf die Schulter.
    In der Erwartung, dem dicken Engel ins Gesicht zu schauen, drehte er sich um. Vor ihm standen jedoch Tom und Chris, zwei junge Kerle, mit denen er rund um eine Sonnenfinsternis in Patagonien Ausflüge unternommen und mit denen er einmal achtundvierzig Stunden lang eine Zelle in einem chilenischen Gefängnis geteilt hatte, ehe es Tanaka gelungen war, sie freizubekommen.
    In spontaner Freude umarmte Jonas die beiden. Nachdem er sie mit Marc bekanntgemacht hatte, bestellte er an der Bar eine Flasche Whisky, die er sogleich bezahlte und an ihren Tisch liefern ließ. Er hielt nach dem Engel Ausschau, doch der war verschwunden, sonst hätte er ihn auch gleich begrüßt und zu den anderen geschickt, jetzt war schon alles egal.
    In diesem Augenblick entdeckten Tom und Chris einen Bekannten, den sie mit Gejohle zu sich baten. Die Begrüßungszeremonie gab Jonas Gelegenheit, die Bar hintenrum zu verlassen und sich auf den Weg zu seinem Zelt zu machen.
    Als er im Lager ankam, fand gerade die Teambesprechung statt. Ohne von jemandem bemerkt zu werden, umschlich er das Messezelt, aus dem Rufe und fragende Stimmen kamen.
     
    Wie wird es sein? dachte er in seinem Zelt.
    Wie ist es, abzustürzen? Zu fallen? Wie wird es sein, diese langsamen schnellen Sekunden zu erleben, mit dem Unterschied, dass es anders als die Male davor diesmal über die Kante hinausgeht?
    Wenn es passiert. Es muss ja nicht passieren. Es könnte nur.
    Wie ist es, sitzen zu bleiben und zu erfrieren, hinüberzudämmern dorthin, wo das Hatta ertönt, die Farben Formen werden, alle Worte sichtbar, die ungesagten wie die gesagten, und nichts mehr weh tut?
    Werde ich arm sein, wenn ich abstürze? Ein armer Kleiner? Werde ich mit mir selbst Mitleid haben in den letzten Sekunden? Werden mir meine Arme und Beine leid tun, die gleich nicht mehr funktionieren, sondern zerschmettert am Fuß einer Felswand liegen werden?
    Meine Augen, nicht mehr blicken, mein Mund, nicht mehr schmecken. Meine Stimme, nicht mehr klingen, meine Nase, nicht mehr riechen, meine Ohren nicht mehr hören. Meine Finger nicht mehr greifen, meine Zähne nicht mehr beißen, meine Lippen nicht mehr küssen, meine Haare nicht mehr wachsen.
    Werden meine Haare arm sein?
    Picco und sein letztes Gespräch mit ihm kam ihm in den Sinn. Er überlegte, dann nickte er.
    Ach was, dachte er. Soll er nur kommen. Mich bringt er nicht um. Ich sehe die Zeichen, und ich bin stark. Meine Haare werden vielleicht arm sein, doch erst in Jahrzehnten werden sie arm sein.

44
     
    In Tokio fühlte er sich wie in einer Weltraumstation. Alles war klaustrophobisch und fremd. Die Menschen etwa sahen nicht nur anders aus, sie waren es auch. Es gab eine strenge Rangordnung. Frauen galten wenig, junge Mitarbeiter dienerten dem Auto, in dem ihr Chef saß, noch hinterher, selbst wenn es schon längst um die Ecke gebogen war, und schienen sich weder voreinander noch

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