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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ihn:
    »Bist du schon mal in deinem Leben zweiundsiebzig Stunden im Bett gelegen, ohne krank zu sein?«
    »Ist schon mal vorgekommen.«
    Als er ihren Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Da war ich allein.«
    Durch die heruntergelassenen Jalousien spähte er hinunter auf die Straße.
    Es war nicht wichtig, was dort geschah. Wichtig war, dass die Welt sich drehte und die Sonne auf- und unterging. Hier ging sie um neun auf und um halb vier am Nachmittag schon wieder unter. Karg. Karge Sonne.
     
    Ende Januar verabschiedete er sich. Ihre Frage, wann er zurückkäme, konnte er nicht beantworten, er versprach jedoch, nicht länger als vier Wochen wegzubleiben und sich jeden Tag zu melden.
    Du wolltest nie lügen, dachte er, als er im Flugzeug nach Tokio saß.

43
     
    Am Nachmittag herrschte im Lager stille Anspannung.
    Jeder war mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Nina fand keinen Spielpartner, Padangs Kraftnahrung wollte keiner essen, über Sams Witze lachten nicht einmal mehr die Höflichsten, und Carla fiel es schwer, alle Unterschriften für ihr Expeditionsbuch zusammenzubekommen. Die rumänische Journalistin, die auf der Suche nach Interviewpartnern war, hatte im Messezelt ebenso wenig Glück wie der holländische Fotograf, der Bergsteiger für seinen Bildband fotografieren wollte. Alle Teammitglieder schienen ihren Gedanken nachzuhängen. Auch gesprochen wurde kaum, und wenn, dann gedämpft, als würden Geister umgehen.
    »Wer begleitet mich heute Abend zur Party der Römer?« fragte Nina. »Carla und Ennio haben mich eingeladen, weil sie dort alte Freunde treffen sollten, aber nun wollen nicht mal sie hin.«
    »Und du bleibst auch hier«, sagte Hadan. »Wie ihr alle! Ich kann mich noch an unseren ersten Khumbuausflug nach einer Party erinnern. Übermorgen ist es soweit, und bis dahin gibt es keine Dummheiten mehr.«
    »Übermorgen? Ganz sicher?«
    »Die Wetterprognose ist gut.«
    Jonas entzog sich den rund um ihn losbrechenden Begeisterungsstürmen, indem er sich aus dem Messezelt schlich und mit einem Buch vor sein Zelt setzte. Er war nicht weniger froh als die anderen, doch er hielt die Enge im Messezelt von Tag zu Tag weniger aus.
    Er grüßte Vorbeigehende, putzte sich die Nase, verdrängte den einen oder anderen Gedanken, aß einen Energieriegel, trank Tee, wartete auf irgendetwas, starrte ins Leere. Ab und zu hob er den Kopf, weil er eine Lawine abgehen hörte.
    Er konnte sich weder auf das eindrucksvolle Naturschauspiel noch auf sein Techniklexikon konzentrieren, denn er wusste, er hatte noch etwas zu erledigen, das er vor sich herschob. So war ihm die Ablenkung durch Marc und Paco sehr willkommen, die sich mit einigen Flaschen Chang bei ihm einstellten.
    »Der Doktor will sich uns beide noch mal ansehen, bevor wir aufbrechen«, erklärte Marc. »Was gibt’s Neues von der Rippe?«
    »Nicht viel. Wenn ich huste, geht die Welt unter, und zum Lachen sollte man mich nach Möglichkeit auch nicht bringen.«
    »Und bei Bewegung?« fragte Paco, der wie üblich eine Zigarette im Mundwinkel hatte und seine Taschen nach der Packung abklopfte.
    »Wenn ich stehe oder liege, ist es auszuhalten, selbst beim Gehen macht sie keine großen Schwierigkeiten. Bloß wenn ich das linke Bein anwinkle, bleibt mir die Luft weg.«
    »Was beim Aufstieg sicher besonders viel Spaß machen wird«, sagte Marc.
    »Nur keine Sorge um ihn«, sagte Paco. »Ich erkenne die, die es schaffen. Ich sehe es. Ich sehe, wer es nicht nur nicht schafft, sondern sogar, wer draufgeht. Der da drüben hat eine schwarze Aura, er bleibt für immer oben. Meine Mutter war eine Hexe.«
    »Meinst du den Kerl da im gelben Anzug?« fragte Marc. »Das ist einer, um den ich nicht weinen würde. Abgesehen davon ist so eine Gabe praktisch, du ersparst dir ja einige Arbeit.«
    »Wieso das?«
    »Na du wirst dir doch nicht die Mühe machen und die mit der schwarzen Aura behandeln! Das zahlt sich doch überhaupt nicht mehr aus.«
    »Können wir aufhören, über ominöse Gaben zu reden?« bat Jonas.
    »Ihr zwei seid komisch«, sagte der Arzt und schnaufte erleichtert, weil er seine Zigaretten gefunden hatte. »Der eine spottet, der andere hat Angst. Du brauchst keine Angst zu haben, diese Dinge sind ganz natürlich und gehören zu dieser Welt. Es hätte auch keinen Sinn, den gelben Mann zu warnen, er würde ohnehin nicht hören. Und selbst wenn, würde er wohl auf andere Weise sterben. Hier sterben die Leute schnell.«
    »Du hörst dich an, als würde dir das

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