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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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vor sich selbst dafür zu schämen.
    Das Essen war anders, die Autos sahen anders aus, die Menschen sprachen eine Sprache, die Jonas zwar in Rom zu lernen versucht hatte, um den geheimnisvollen Übersetzungscomputer in seinem Kopf zu aktivieren, die aber aus rätselhaften Gründen verdreht in seinem Kopf ankam, als merkwürdig altertümliches Deutsch, sodass er bald dazu überging, sich nicht mehr auf die japanischen Worte zu konzentrieren und mit den Einwohnern auf Englisch zu kommunizieren.
    Tagsüber schlief er, abends las er, nachts ging er aus. Am öftesten zog es ihn nach Roppongi, und mit Vorliebe trieb er sich in jenen dunklen Gassen herum, vor denen Ausländer in Reiseführern gewarnt wurden. Manchmal, wenn er meinte, dass gefährliche Menschen in den Spelunken saßen, in die es ihn verschlagen hatte, wedelte er beim Zahlen auffällig mit seinem Geldbündel und wartete dann vor der Tür.
    Ab und zu, eher selten, ging ihm jemand nach. Mal waren es zwei, mal drei, einmal fünf. Unerklärlicherweise passierte niemals etwas. Sie sahen ihn da stehen und sie anstarren und kehrten entweder verlegen in die Bar zurück oder verschwanden in einer Seitengasse.
    Eines Abends, es war in der dritten Woche seines Aufenthalts, betrat er in Shinjuku eine Bar, in der es verdächtig still war. Die Augen sämtlicher Gäste waren auf das Geschehen in der düsteren linken Ecke gerichtet.
    Es wird interessant, dachte Jonas.
    Zwei stämmige junge Männer mit langen Haaren standen vor einem gepflegt wirkenden Mann in weißem Hemd und teurem weißen Anzug. Es war Jonas ein Rätsel, wie der Weiße in diese Gesellschaft geraten war, doch es blieb nicht viel Zeit, über solche Fragen nachzudenken, denn der Bedrängte blutete aus Mund und Nase. Einer der jungen Kerle hielt ihm ein Messer an die Kehle, während der zweite nun auf ihn einschrie. Einige Gäste liefen heraus.
    Faszinierend, dachte Jonas, als er sich den mit dem Messer vornahm, jetzt stechen mich irgendwelche Halbstarken ab. Auch eine Variante, auch eine Lösung, nicht angenehm, aber was sein muss, muss sein.
     
    »Wo haben Sie das gelernt?« fragte der Weiße in akzentfreiem Englisch, als sie sich ins Taxi setzten.
    »Von einem Freund.«
    »Ein guter Freund.«
    »Das ist er. Wir bringen Sie in ein Krankenhaus.«
    Der Weiße nannte dem Fahrer eine Adresse, und sie fuhren los.
    »Es reicht, wenn Sie mich vor dem Krankenhaus absetzen«, sagte der Mann zu Jonas. »Bitte greifen Sie in meine Tasche. Darin befinden sich meine Visitenkarten. Es wäre unschön, sie mit den blutigen Fingern zu verschmutzen. Bitte nehmen Sie eine.«
    Der Name auf der Karte lautete Kazuyoshi Tanaka, darunter standen Adresse und Telefonnummer. In dem Moment, als er den Namen las, wusste Jonas, dass er falsch war. Es kümmerte ihn nicht.
    »Sie fragen gar nicht, was ich mit diesen Leuten zu tun gehabt habe?«
    »Nein.«
    »Interessiert es Sie?«
    »Nein.«
    »Wollen Sie zu diesem Zwischenfall noch etwas sagen?«
    »Nein.«
    »Wie erfreulich. Bitte besuchen Sie mich morgen Abend zu Hause.«
    »Morgen Abend werden Sie im Krankenhaus liegen.«
    »Morgen Abend werde ich auf Sie warten. Ich bitte Sie, mich zu besuchen. Ich verdanke Ihnen mein Leben und wünsche mir nichts mehr, als mich in angemessener Umgebung bedanken zu können.«
    »Es ist kein Dank nötig, das war selbstverständlich.«
    »Sie wissen nicht, was Sie getan haben. Glauben Sie mir, es war nicht selbstverständlich. Außer Ihnen hätte niemand in dieser Bar auch nur einen Finger für mich gerührt, und zwar aus guten Gründen.«
    Sie schwiegen, bis sie am Krankenhaus angelangt waren.
    »Meinen Sie wirklich?« fragte Jonas, als Tanaka ihm beim Abschied statt der blutigen Hand den Ellbogen hinstreckte. »Die zwei hätten Sie getötet? Sie wollten Sie nicht bloß einschüchtern?«
    »Unglücklicherweise kann man mich nicht einschüchtern. Man muss mich töten. Das wissen diese beiden.«
    »Also mich kann man einschüchtern«, murmelte Jonas.
    »Davon habe ich nichts gemerkt. Bis morgen, bitte.«
    »Warten Sie!« rief Jonas dem aussteigenden Tanaka hinterher. »Eines möchte ich doch wissen – was für einen Beruf üben Sie denn aus?«
    »Ich bin Anwalt. Man könnte auch sagen, ich vertrete Interessen. Wir sehen uns morgen, bitte.«
    »Und um wieviel Uhr?« rief Jonas, doch der Weiße war weg.
     
    Die Frage, wann er den Anwalt aufsuchen sollte, beschäftigte Jonas während seines Frühstücks, das aus drei Portionen Misosuppe bestand. Er

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