Das größere Wunder: Roman
auf die kleine Lampe an der Zeltdecke, die er in den vergangenen Wochen so oft angestarrt hatte, und fragte sich, ob er vorbereitet war. Hatte er an alles gedacht?
Die Haare von Mike, die er auf dem Gipfel lassen wollte, steckten in seinem Rucksack, ebenso wie die Kamera. Glücksbringer hatte er keinen, doch er hatte ein Gebet ans Universum geschickt, er hatte abgeschlossen mit allem, mit dem er abzuschließen vermocht hatte, und das war einiges.
Und doch, vieles war offen. Möglicherweise kam etwas auf ihn zu, dem er nicht gewachsen war. Man wusste es vorher nicht. Man wusste vorher gar nichts.
»Jonas?«
Er verhielt sich still.
»Bist du da, Jonas?«
War das da draußen Padang oder Pemba? Da Jonas mit Marc gehen würde, musste er nicht zur Teambesprechung, aber es konnte trotzdem etwas Wichtiges sein.
Als er aus dem Zelteingang schaute, hielt ihm Padang einen Umschlag hin.
»Für dich abgegeben worden. Von zwei Männern. Der eine hieß Tom, den anderen Namen habe ich nicht verstanden. Sie sagten, sie sind Freunde von dir.«
Jonas spähte misstrauisch ins Dunkel hinaus.
»Sind sie noch da?«
»Sie haben nur das hier abgegeben und sind wieder verschwunden. Ich soll dir Glück für morgen und die kommenden Tage wünschen, und du bist ein verrückter Hund.«
Jonas nahm den Brief entgegen. Die Handschrift, in der sein Name auf das Kuvert geschrieben war, erkannte er mit einem flüchtigen Blick. In seinen Armen und Beinen begann es ebenso zu brennen wie in seiner Magengrube, er stieß einen Schrei aus und sprang hoch. Dabei prallte er mit dem Kopf gegen die Lampe, die herabfiel, erlosch und sich nicht mehr anschalten ließ.
»Alles in Ordnung?« fragte Padang. »Die Dinger halten nichts aus. Ich bringe dir eine neue.«
Jonas hielt es nicht im Zelt aus. Den Brief in der ungeschützten Hand, die in der eisigen Abendkälte binnen Sekunden zu erfrieren begann, lief er im Dunkeln umher und versuchte, sich zu fassen, zumindest so weit, dass er sich zwischen den Steinen und all dem Geröll nicht den Hals brach. Als er endlich merkte, wie durchgefroren er war, legte er sich wieder ins Zelt und verkroch sich im Schlafsack.
Padang brachte die neue Lampe gleich selbst an.
»Soll ich sie eingeschaltet lassen?« fragte er.
»Lieber nicht.«
»Willst du schon schlafen?«
»Bald.«
»Schlechte Nachrichten?«
»Was, wieso?«
»Der Brief. Du hast geschrien.«
»Ach so, nein. Alles in bester Ordnung.«
»Na dann. Hast du Angst?«
»Ja.«
»Das ist gut«, sagte der Sherpa. »Wer Angst hat, den beschützen die Götter.«
»Es sind sicher schon Leute gestorben, die sehr viel Angst hatten.«
»Da hast du wahrscheinlich auch recht«, sagte Padang und zog von außen den Reißverschluss zu.
46
Das wurde sein Leben.
Er flog von Peking nach Beirut, von Ankara nach Sidney, von Belgrad nach Madrid, von Wien nach Paris, von Bangkok nach Kapstadt, von La Paz nach Kairo, von Dallas nach Honolulu, von Shanghai nach Astana, von Casablanca nach Genf, von Male nach Lissabon, von Porto nach Stockholm, von Frankfurt nach Moskau, von Delhi nach Kiew, von Salzburg nach Bukarest, von Venedig nach Barcelona, von Oslo nach Havanna, von Los Angeles nach Mexico City, von Melbourne nach Bagdad, von Budapest nach London, von Teheran nach Damaskus, von Helsinki nach Zagreb, von New York nach Berlin.
Er fuhr mit Zug und Bus von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, auf der Suche nach etwas, das er weder benennen noch fassen konnte, von dem er jedoch wusste, dass es existierte. Irgendwo hinter einer dünnen Membran wartete es auf ihn, auf seine Bereitschaft, es zu erkennen. Es war da, und er war da.
Er hatte vier verschiedene Pässe, die dank der professionellen Arbeit von Tanakas Leuten nie beanstandet wurden. Er hatte Affären, verliebte sich, verließ, wurde verlassen. Er sah eine Sonnenfinsternis in Bangkok, eine in Ulan-Bator, eine auf den Galápagos-Inseln, eine zu Hause im verwilderten Garten der Burg an der Seite Zachs, wo er zuvor den alten Dagobert begraben hatte, der unter ein Auto gekommen war. Er wurde Zeuge von Millionen Belanglosigkeiten und einiger Katastrophen. Beim Erdbeben in Kobe sah er das Wasser in einem Bach abheben und tanzen, beim Brand in einem Krakauer Wohnhaus rettete er gemeinsam mit einem anderen Passanten eine alte Frau, und einmal beobachtete er in der Nähe von Málaga, wie ein Kleinflugzeug abstürzte. Ein halbes Jahr lebte er als Gärtner in einem ostslowakischen Dorf, bis er für einige Monate nach
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