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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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könnte. Da fielen ihm die Kekse aus dem Flugzeug ein, die das Bordpersonal als Entschädigung für die zweistündige Verspätung verteilt hatte. Sie steckten noch in seiner Jacke.
    Als er die Packung hervorzog, entstand zwischen den Schutthaufen um ihn Bewegung. Zwar tönte der eine Junge wieder: »Kekse hat der mit dem Hund auch gehabt!«, doch keine Minute darauf saß er mit den anderen vor Jonas und hielt die schmutzige kleine Hand auf.
    Was Jonas in der folgenden Stunde hörte, erschütterte ihn so sehr, dass er zeitweise abschalten und an etwas anderes denken musste. Diese Jungen waren von zu Hause weggelaufen oder fortgejagt worden und lebten in einem Loch unter der Straße. Sie erbettelten sich ihr Essen oder stahlen dafür, sie tranken aus Pfützen oder leerten weggeworfene Schnapsflaschen, in denen sich noch ein Rest fand, von dem sie vorher nie wussten, ob es Wodka war oder Urin. Sie wurden verprügelt und vergewaltigt, und in den letzten zwölf Monaten waren zwei aus ihrer Gruppe getötet worden und zwei auf mysteriöse Weise verschwunden. Sie waren zwischen zehn und vierzehn Jahre alt, nur der eine, der mit seinem großen Bruder gekommen war, von dem es keine Spur mehr gab, sei erst sieben, erzählte der Wortführer, der struppige Junge, der vor dem Mann mit dem Hund gewarnt hatte.
    »Wie du siehst, habe ich keinen Hund. Dafür habe ich das da.«
    Aus seinen eben noch leeren Händen zauberte Jonas einen Kugelschreiber, der in vier verschiedenen Farben schreiben konnte.
    Der Siebenjährige war begeistert, der kleine Kapo weniger:
    »Hätten Sie nicht vielleicht auch etwas Geld für uns?«
    Jonas hatte nur Dollar bei sich, und er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Bank diese Gestalten einlassen würde. Erwachsene, bei denen sie das Geld zu wechseln versuchten, könnten sie übers Ohr hauen oder ihnen gar Schlimmeres antun.
    »Ihr werdet Geld bekommen«, sagte er.
    Nachdem er sich aus dem Loch gezogen hatte, wo er resignierte Gesichter zurückließ, und ein paar Meter gegangen war, übergab er sich. Da, wo das Licht in der Straße flackerte, erklang gedämpftes Gelächter.
    Er notierte sich die Adresse des Hauses, vor dem dieses Höllenloch zu finden war, winkte ein Taxi heran und fuhr zum Hotel zurück. Dort duschte er eine halbe Stunde lang. In einem zu engen, abgetragenen Hotelbademantel setzte er sich ans Telefon.
    »Tanaka.«
    »Schlafen Sie eigentlich nie?«
    »Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«
    »Können Sie auch große Probleme lösen?«
    »Ich bin zuversichtlich.«
    Jonas schilderte, was er erlebt hatte, und schloss:
    »Ich will nicht nur, dass spätestens morgen früh zwei vertrauenswürdige Frauen dort auftauchen und die Kinder rausholen, ich will eine dauerhafte Lösung für sie. Und zwar am besten für alle, die hier so leben müssen. Holen Sie sie von der Straße. Ich werde eine Überweisung veranlassen, ein Mann namens Hohenwarter wird Sie anrufen. Wichtig ist, dass Frauen hingehen, keine Jurijs. Können Sie das alles für mich erledigen, oder mache ich mir ein falsches Bild von Ihren Möglichkeiten?«
    »Ohne unbescheiden klingen zu wollen, darf ich Ihnen bestätigen, dass Sie sie nicht überschätzen.«
    »Herr Tanaka, ich mag Ihre Einstellung.«
    »Eine Frage noch, als Freund. Wissen Sie, wie groß die Welt ist und wieviel Elend in ihr?«
    Jonas drosch den Hörer auf die Gabel. Er ging nochmals duschen, kalt, und als er zähneklappernd zurückkam, zertrümmerte er das halbe Hotelzimmer, bis jemand gegen die Tür trommelte und verschiedene aufgebrachte Stimmen zu hören waren.
     
    In Prypjat, wo 30 000 Menschen gelebt hatten und das zwei Tage nach dem Reaktorunfall geräumt worden war, herrschte noch immer bedenklich hohe Strahlung, doch die Hauptstraßen und einige Häuser waren von der sowjetischen und später von der ukrainischen Armee so weit gesäubert worden, dass der Geigerzähler, den Jonas von Jurij am letzten Checkpoint bekommen hatte, keine kritischen Werte anzeigte.
    Vielleicht ist das Scheißding ja kaputt, dachte Jonas, vielleicht findet Jurij mich genauso unsympathisch wie ich ihn.
    Er schlug sein Lager in einer leeren Wohnung auf, die offensichtlich trotz der radioaktiven Gefahr geplündert worden war und von der aus er auf die rostigen Rutschen und Schaukeln eines Kinderspielplatzes blickte. Wenn er die Kontrollposten passierte, um einkaufen zu fahren, grüßten ihn die Soldaten, schüttelten die Köpfe und lachten. Er verteilte Zigaretten, hörte sich

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