Das größere Wunder: Roman
Serbien zog, um in einem kleinen Dorf einen Laden zu führen, in dem er ausschließlich indische Tageszeitungen anbot. Das Geschäft lief nicht besonders gut. Aber er wusste: Der eine, der ihm eine Zeitung abkaufte, der war etwas Besonderes. Auf solche Stunden galt es zu warten. Immer, überall.
Er lernte die beliebtesten Wellen der Surferwelt kennen, Jaws, Maverick, Teahupoo, und als er einmal vor Nazaré auf einer mindestens fünfzehn Meter hohen Welle ritt, hatte er eine klare Vision von Werner, der am Strand stand und ihm zuschaute, während Mike neben ihm im Sand nach Muscheln suchte. Er wollte ihnen zuwinken, doch da verblasste das Bild, und Jonas war wieder umgeben vom Donnern der Welle.
Sooft es ihn hinzog, wohnte er in Tics fünfstöckigem Baumhaus mit seinen weichen, runden, fließenden Formen, in dem eine Wendeltreppe vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer führte, vom Schlafzimmer ins Arbeitszimmer, vom Arbeitszimmer ins Gästezimmer, vom Gästezimmer in die Küche, nur die Toilette war auf dem Boden gebaut worden. Alles in allem erinnerte ihn das Haus an Gaudí, doch während die Sagrada Família nichts Geheimnisvolles für ihn barg, hatte Jonas hier im Wald das Gefühl, in einem Märchen gelandet zu sein, in einer Zuckergussphantasie voller komplexer Verzierungen, in einem elegant kalkulierten Traum. Dieser einsame Ort, an den sich nie jemand außer ihm verirrte, war für ihn der schönste der Welt. Sommers wie winters verbrachte er immer wieder einige Tage dort, bevor er in die Zivilisation zurückwanderte.
Im Figurenpark von Malavasi übernachtete er wochenlang unter freiem Himmel, auf den Kilimandscharo wanderte er allein und ohne Karte, und nachts hörte er Löwen brüllen. In der Zona del Silencio in Mexiko blieb er vier Monate, er sah sich die Megalithe von Carnac an, er schlich sich nachts ins Hypogäum von Ħal-Saflieni, er besuchte den Friedhof der Namenlosen in Wien und in Kolymvari den vielleicht ältesten Olivenbaum der Welt, er segelte zum Pazifischen Pol der Unzugänglichkeit, er fuhr zum Goldenen Felsen in Myanmar, er schlief nahe den Moai auf der Osterinsel, er wanderte über den Inka-Pfad nach Machu Picchu, im Yosemite boulderte er und betrachtete mit José, den er dort kennengelernt hatte, ehrfürchtig die Granitwand des El Capitan, kurz darauf wagte er sich immerhin durch die Scala del Menighel, jene hundert Meter hohe, senkrechte Wand, die man auf kurzen Eisenstiften überwinden musste, Jonas tat es ohne Sicherung und fühlte dabei, wie die Tiefe an ihm zerrte und zog. Sie wollte ihn haben, sie bekam ihn nicht.
Zwischendurch gelang es ihm, über ein Jahr lang mit niemandem ein Wort zu wechseln, die üblichen Floskeln an Sicherheitskontrollen und Rezeptionen ausgenommen. Er wurde zum Geist, er flog durch die Welt mit einem Bewusstsein, das sich mehr und mehr von dem der anderen Menschen entfernte. Immer wieder musste er sich selbst zurückrufen, um sich nicht im Getöse dieses Nichts zu verlieren. Zugleich wusste er, wenn es einen Weg gab, zu irgendeiner Form von Befreiung oder Erkenntnis zu gelangen, dann war es dieser. Unglücklich war er selten, glücklich nie.
In Bonn gab er sich als Fotograf aus und trat einer Laientheatertruppe bei, mit der er in sechs Vorstellungen von »Endstation Sehnsucht« den Kowalski spielte, ehe er weiterzog. Er arbeitete bei der Lokalredaktion einer Zeitung, hütete einen Sommer lang Kühe auf einem Bergbauernhof, lernte in Málaga schweißen, verdingte sich in einem Ort nahe São Paolo als Masseur. Er gründete Stiftungen gegen Tierversuche, arbeitete in Behindertenheimen, befüllte sein Museum in Oslo mit den absonderlichsten Devotionalien und wurde in Hamburg drogensüchtig.
Das also auch noch, dachte er, als er feststellte, wie elend es ihm irgendwann ging, wie schwierig es wurde, mit offenen Augen zu reisen, wie hohl er war und wie wenig noch in ihm nachschwang von dem, was er erlebte, wie oft er in einem Zugabteil oder einem Flugzeug oder in irgendeinem Hotel nur noch dahindämmerte und an Dinge dachte, die lange zurücklagen und die nichts auf der Welt ändern konnte. Er schlug wahrhaftig seine Zeit tot, und diese Erkenntnis erschreckte ihn über alle Maßen.
Er versuchte, von seiner Sucht wegzukommen, doch das war schwieriger als gedacht, denn es genügte schon, die Toilette einer Bar aufzusuchen, und sofort verlangte es ihn nach dem Rausch, nach diesem Ereignis in seinem Kopf, das die Welt entzündete, das aus der Wirklichkeit ein Phänomen von
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