Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
selbst, an den, der er sein würde, wenn er eines Tages wiederkam. Abends schlief er, spätabends zog er los und ließ sich von Einheimischen in gefälschten Adidas-T-Shirts die Bars der Umgebung zeigen.
    Er flog nach Belfast, des Namens wegen. Er flog nach Leicester, nach Edinburgh, nach Birmingham, Fieberschub, Nachrichten im Hotelzimmer. Mit dem Flugzeug nach Prag, von Prag mit dem Nachtzug nach Rom, wo er zu dem Haus spazierte, in dem er zwei Jahre gewohnt hatte, und zu seinen alten Fenstern hochschaute, hinter denen sich nichts regte. Im Zentrum entdeckte er einen Laden, der die besten Weine und Antipasti führte, er blieb vier Tage und freundete sich mit Salvo an, dem Besitzer, der einzige rothaarige Italiener, den Jonas je gesehen hatte. Er mietete sich ein Auto und fuhr nach Bologna, wo er sich in Susan verliebte, eine Studentin aus Connecticut, deren verzogenen Cockerspaniel Minki er vier Monate lang dreimal täglich ausführte und der er Handtaschen von Prada und Kostüme von Chanel kaufte, bis er seine Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen wollte, dass sie morgens im Bett ihren Hund öfter und inniger küsste als ihn.
    Er rief Tanaka an.
    »Können Sie wirklich Probleme lösen?«
    »Ich denke schon.«
    »Sagt Ihnen der Name Prypjat etwas?«
    »Der Ort bei Tschernobyl?«
    Jonas erklärte ihm, was er vorhatte, und Tanaka versprach, sich binnen zwei Tagen zu melden.
    Das Telefon läutete nach vier Stunden.
    »Sie fliegen morgen nach Minsk«, sagte Tanaka. »Am Flughafen erfahren Sie den Namen Ihres Hotels, dort ist alles für Sie hinterlegt. Geben Sie nicht mir die Schuld an der Unterkunft, die sucht Jurij aus. Den treffen Sie auch morgen. Mögen werden Sie ihn nicht.«
    »Das ist kein Hindernis, solange er mich hinbringt.«
    »Das wird er.«
    »Wie kann ich mich bei Ihnen erkenntlich zeigen?«
    »Gar nicht. Ich schulde Ihnen mehr, als ich Ihnen jemals geben könnte.«
     
    Vielleicht lag es an der Erkältung, die er sich bei den frühmorgendlichen Spaziergängen mit dem Hund zugezogen hatte, vielleicht war es der Trennungsschmerz, jedenfalls empfand Jonas während seines Streifzugs durch fast unbeleuchtete Straßen Minsk als eine der scheußlichsten Städte, die er je gesehen hatte. Die meisten osteuropäischen Länder mochte er nicht besonders, die Menschen taten ihm leid, weil sie in solchem Grau leben mussten.
    Von Jurij, einem ehemaligen Offizier der Roten Armee, hatte er sich rasch verabschiedet, weil ihm seine Ausstrahlung unangenehm war und er ihn ohnehin noch den ganzen nächsten Tag während der Autofahrt in die Ukraine würde ertragen müssen. Er streunte allein durch heruntergekommene Viertel, verscheuchte hungrige Hunde, die nach ihm schnappten, dachte an Susan, dachte an das, was ihn in Prypjat erwartete, bis ihm ein Loch in der Straße auffiel, in dem er einen schwachen Lichtschein wahrnahm.
    Sein Sensorium für Gefahren ließ ihn mehrmals in alle Richtungen spähen, ehe er hinging und sich ein Bild von der Sache machte. Der Anblick, der sich ihm bot, überraschte selbst ihn, obwohl er mittlerweile nur schwer aus der Fassung zu bringen war. In diesem Loch unter der Straße hockten zerlumpte Kinder und wärmten sich an einem kleinen Feuer.
    Sie wirkten entkräftet, keines von ihnen sprach. Als sie sein Gesicht über ihnen entdeckten, schrien sie nicht etwa, sondern verkrochen sich bloß ein Stück nach hinten, wo sie ergeben darauf zu warten schienen, was Jonas mit ihnen anzustellen gedachte, der nach einem letzten vorsichtigen Blick auf die Straße durch die Öffnung nach unten gesprungen war.
    »Ich will euch nichts tun!« rief er auf Russisch.
    »Das sagen sie alle«, meinte einer der Jungen halblaut.
    Ein anderer lachte, die übrigen blieben, wo sie waren, still und beinahe apathisch.
    »Ich will mich nur am Feuer wärmen«, sagte Jonas und setzte sich.
    »Das sagen sie alle«, sagte der Junge von vorhin, schon etwas lauter, während die anderen unverändert stumm blieben. »Hat der mit dem Hund auch gesagt.«
    Jonas beschloss, ihnen Zeit zu geben. Immer wieder blickte er zu dem Loch in der Straße hinauf, weil er insgeheim mit irgendeiner hässlichen Überraschung rechnete, denn das hier sah ganz nach einer Falle aus. Wenn es jedoch keine war, gab es für ihn etwas zu tun.
    Er rieb sich die Hände am Feuer, das die Kinder offenbar aus den Überresten einer Parkbank entfacht hatten, und überlegte, wie er das Vertrauen der Jungen – Mädchen hatte er keine gesehen – gewinnen

Weitere Kostenlose Bücher