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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ihre Warnungen an und trank hier und da ein Bier mit ihnen.
    Nach einer Woche bekam er Fieber. Er nahm an, es sei einer der üblichen Schübe. Nach zwei Tagen war es vorbei.
    Er notierte sich das Datum, skizzierte seine Lebenssituation in wenigen Worten und versteckte den Zettel, den er zuvor in eine Plastiktüte gepackt hatte, hinter einem lockeren Stück Mauerwerk in der Wand.
    Er blieb einen Monat in Prypjat. Allein, in seiner Wohnung, wo der Verputz von den Wänden bröckelte und wo er nachts im Dunkeln der Musik aus seinem Weltempfänger lauschte, während Tic in Østerdalen über Bauarbeiten wachte, Tanaka in Tokio Interessen vertrat, der Rezeptionist in Kiel trank und schwitzte, Anouk in Hossegor Cocktails verkaufte und sich danach sehnte, einem Genie zu begegnen, Kinder in Löchern hausten, Susan in Bologna mit Pietro schlief und die Welt sich der nächsten Sonnenfinsternis entgegendrehte, voller Menschen mit Wünschen und Sehnsüchten.

45
     
    Gewöhnlich wachte er im Basislager so zerschlagen auf, als hätte er kaum oder gar nicht geschlafen, doch nun, am letzten Tag vor dem Aufbruch zum Gipfel, fühlte er sich frisch wie zuletzt in Kathmandu. Er nahm es als gutes Omen.
    »Was machst denn du schon hier?« fragte Pemba im Messezelt.
    »Tee trinken hoffentlich.«
    »Gleich da.«
    Kaum stand die Tasse vor ihm auf dem Tisch, betrat Nina das Zelt. Nachdem sie die Kopfhörer abgesetzt, guten Morgen gewünscht und er ihre obligatorische Bitte um eine Partie Backgammon abgeschlagen hatte, fragte er aufgeräumt:
    »Was ist das für ein Lied?«
    »Welches Lied?«
    »Du summst seit Tagen immer dieselben drei Noten, geht das Lied noch weiter?«
    »Ach so? Merke ich selbst gar nicht. The older I get the deeper I fall . Kennst du das?«
    Er kannte es nicht nur, er wusste auch, wann und wo es geschrieben worden war, nämlich in seinem Bett in Tokio.
    Er wankte aus dem Zelt.
    »Was hat der denn?« hörte er Nina hinter sich.
     
    Am Vormittag machte er sich endlich daran, seine Sachen zu ordnen. Den angefangenen Brief an Marie zerriss und entsorgte er mitsamt einigen Fotos, die zu intim waren, um sie andere sehen zu lassen. Sein Tagebuch, in dem er nur alle paar Monate einige wenige Sätze notiert hatte, steckte er in ein Kuvert und adressierte es an Zach. Er packte das meiste ein, warf manches weg, hinterließ keinen Müll. Sollte er nicht mehr zurückkehren, ersparten sich Hadan und die anderen die unangenehme Aufgabe, in den persönlichen Gegenständen eines toten Kameraden wühlen zu müssen.
    Auf seinem Klappstuhl vor dem Zelt fiel ihm ein, was er geträumt hatte. Er stand mit einer gesichtlosen Frau am Strand einer einsamen Insel, als sich am Horizont ein ungeheurer Tsunami erhob. Die Welle rollte heran, kam näher und näher, erstarrte plötzlich. Die Frau beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das er nicht verstand.
    Er wusste nicht mehr, wie es weitergegangen war, er musste bald danach aufgewacht sein, doch er erinnerte sich an ihre warme Hand in seiner und an den Duft ihres Haars, dunkel und salzig.
    Wenn das hier vorbei ist, fliege ich direkt nach Moi, dachte er.
    Den Rest des Tages hielt er sich vom unteren Teil des Lagers mit den Bars fern, er wollte keinen alten Bekannten mehr über den Weg laufen. Marc, der am Nachmittag vorbeikam, um die Steigeisen zu kontrollieren, erzählte, Tom und Chris seien über sein Verschwinden nicht überrascht gewesen.
    »Ich übrigens auch nicht«, sagte er. »Nur für den Fall, dass du dich entschuldigen wolltest.«
    »Du hast ihnen nicht gesagt, wo unser Lager steht? Die tauchen hier nicht auf?«
    »Sie haben gar nicht gefragt. Sie scheinen dich ganz gut zu kennen. Nette Jungs. Habe mich nach dem, was mir den Argentiniern gegenüber rausgerutscht ist, natürlich gehütet, mit denen über dich zu reden.«
    »Gut so«, sagte er.
    Wenn sie hier wäre, wüsste ich es bereits, dachte er. Sie hätten es Marc gesagt, er hätte es mir gesagt.
    »Hast du noch Fragen wegen morgen?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Es erwartet dich nichts Unbekanntes. Die Strecke kennst du ja schon. Interessant wird es ab Lager 3, aber da sind wir erst in drei Tagen. Ich weiß nicht, wieso die Leute wegen morgen so ein Theater machen. Sogar Hadan vergisst seine Manieren.«
     
    Den Nachmittag und Abend verbrachte Jonas mit einem Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg. Irgendwann merkte er, dass nun auch in ihm eine gewisse Unruhe aufstieg.
    Er drehte sich auf den Rücken, schaute

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