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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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beruhigender Übersichtlichkeit machte und aus ihm jemanden, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte.
    Er musste auf schmerzhafte Weise erkennen: Eine Droge ist ein Gegner, der genauso ist wie man selbst. Genauso groß, genauso breit, genauso kräftig. Keinen Zentimeter größer, keinen Zentimeter kleiner. Nicht schwerer und nicht leichter, nicht stärker und um nichts schwächer. Wie besiegt man so jemanden? Wie besiegt man jemanden, der genauso ist wie man selbst?
     
    Mila war Galeristin. Die Bilder, die sie verkaufte, gefielen Jonas nicht immer, doch zu ihr fühlte er sich schnell hingezogen. Sie war schlank und sportlich, hatte kurzes Haar und einen weichen dunklen Teint, und wenn sie sich abends in ihrer Hamburger Galerie mit all den edel gekleideten Kunstliebhabern unterhielt, war sie sogar noch in Jeans die eleganteste Erscheinung. Ihre Bewegungen hatten etwas Katzenhaftes, sie trug ebenso gern Sportschuhe wie High Heels, die mehr kosteten als so manches Bild in ihrer Galerie, und sie war die erste Frau, der er begegnete, die alles, aber auch alles anziehen konnte und immer anmutig blieb, selbst wenn sie im Malerkittel eines Fettsacks steckte oder in Turnhosen oder in einer Kostümierung für einen Kindermaskenball.
    Wenn sie einander beim Abendessen gegenübersaßen, sah er in ihren braunen Augen, dass sie Tiefen hatte, die sie selbst nicht kannte, und dass sie zu vielem fähig war, was sie sich niemals zugetraut hätte. Einmal wischte sie alles, was auf dem Tisch stand, Gläser, Teller, Schüsseln, Kerzen, mit einer langsamen Armbewegung zu Boden, einmal schlug sie ihrer Nachbarin ansatzlos mit einer Salatgurke über den Kopf, einmal bedrohte sie ihre Putzfrau mit einem Grillspieß, und an nichts von all dem konnte sie sich später erinnern.
    Bezeichnend, dachte Jonas, die Frauen, die mich am meisten faszinieren, sind potentielle Mörderinnen.
    »Was findest du eigentlich an mir?« fragte Jonas sie einmal, als er sich bei einer Vernissage plötzlich fehl am Platz fühlte, so weit weg von den Menschen, die ihn umgaben und versunken die Bilder begutachteten.
    »Du ruhst in dir«, sagte sie, ohne sich über die Frage zu wundern. »Du ruhst mehr in dir als alle Männer, denen ich je begegnet bin. Nichts wirft dich um. Du bist ein Berg.«
    Im Bett war sie still und auf seltsame Weise direkt, obwohl sie sich nur von hinten nehmen ließ. Eines Tages gestand sie ihm, in ihrem ganzen Leben noch keinen Orgasmus gehabt zu haben. Sie war rastlos und nervös, doch wenn er nachts bei ihr lag, ob den Kopf voller Gift oder nicht, wurde er ruhiger, so ruhig, dass er eines Tages erkannte, wie weit es mit ihm gekommen war.
    Dieser Zustand, in den man hinabgleitet, die tiefe Dunkelheit, in der man sich selbst nicht mehr spürt, sich eher als Teil eines Ganzen empfindet, angeschlossen an die Hauptader, hörend und sehend. Er war ein einzelner, vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.
     
    Er verstand nie, warum er der Überzeugung war, Mila viel zu verdanken. Er verdankte ihr jedenfalls den Geruch dieser Zeit, es war der Geruch ihres Schlafzimmers, es roch nach Holz und Stoff, und das war besser als der Geruch der Toiletten von Bars und Lokalen, den er auch schon zur Genüge kannte und den er manchmal wochenlang nicht mehr aus der Nase bekam.
     
    Der Sportwagen gehörte ihr. Es war das schnellste für die Straße zugelassene Auto überhaupt, was gut zu Mila passte, die eine sehr gute Fahrerin war. Sie lieh es ihm für einen Ausflug nach Hause, wo er Zach und die anderen besuchen und mit Hohenwarter einige Geschäftsangelegenheiten besprechen wollte.
    Auf der Autobahn beschleunigte er auf über 300. Ihn verblüffte, wie still es um ihn wurde, wie leise doch der Motor lief, bis er verstand, dass es nicht nur der Motor war. Die Welt wurde leise, wurde ausgedimmt, er näherte sich einer gewissen Grenze, von der er das Gefühl hatte, nicht mehr Teil dieser Wirklichkeit zu sein. Es war ein Erlebnis von tröstender Unbehaglichkeit, von absoluter Konzentration und einem neuen Verständnis von Räumlichkeit, es waren Stunden eines fremden Rausches.
    Zu Hause gab es eine Auseinandersetzung mit Zach, der sofort bemerkte, in welcher Verfassung Jonas war. Jonas stieg wütend ins Auto, fuhr umher, hörte Musik, trank Kaffee in einem Landgasthaus, machte sich auf der Toilette frisch, stritt sich mit der Kellnerin, fuhr weiter. Er schaute bei Harrys Schweinen vorbei und war traurig, weil er den gefleckten

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