Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
Ansichtskarten. Eine schickte er an Mila, die sich innerhalb von drei Wochen mit einem serbischen Banker verlobt und verheiratet hatte, eine an Gruber, eine an die Frau in dem Reisebüro, die ihm damals das Ticket nach Rom verkauft und die er nie wiedergesehen hatte. Eine bekam Anouk, zwei gingen an Vera.
    Was sie wohl macht, dachte er. Wie sie wohl aussieht?
    Er konnte sich noch an alles erinnern, an die Details ihres Körpers, an das himbeerförmige Muttermal am Ansatz ihres Oberschenkels, an eine Narbe am Bauch, an die spezielle Art, wie sie ihre Haare zurückstrich, an ihren Geruch, vor allem an ihren Geruch.
    Das alles war schon so lange vorbei.
     
    Kurz entschlossen flog er nach Auckland. Am Flughafen mietete er ein Auto, das er jedoch zunächst stehenließ, um sich von einem Taxi zum Sky Tower bringen zu lassen. Er fuhr zweihundertzwanzig Meter nach oben, schaute auf die Stadt, setzte sich in das Drehrestaurant, das sich innerhalb einer Stunde um die eigene Achse drehte, trank eine Flasche Wein, ging zu Fuß hinunter und stieg ins Taxi, das ihn zu seinem Mietwagen brachte.
    Er hatte keine Straßenkarte dabei, und er kümmerte sich weder um die Landschaften, durch die er fuhr, noch um die wenigen Leute, mit denen er zu tun hatte. Nach drei Tagen in halbleeren Motels und auf kaum befahrenen Nebenstraßen setzte er sich an einem aufgelassenen Bahnhof, wo das Gras zwischen den Schienen wucherte, ein alter Güterwaggon vor sich hin rostete und unbekannte Vögel sangen, auf die Motorhaube seines Jeeps und dachte an die anderen.
    An die Menschen, die überall auf diesem Planeten verstreut waren, die er gekannt hatte, die er kannte, von denen er einige geliebt oder jedenfalls sehr gern gehabt hatte. Sie betraten in diesem Moment den Supermarkt und waren nicht hier oder grüßten ihre Kollegen und waren nicht hier oder legten sich ins Bett und waren nicht hier, während er diese Einöde hier betrachtete. Diesen sinnlosen neuseeländischen Güterwaggon. Den keiner mehr wollte und keiner mehr brauchte.
    »Hey, du!« rief er über die Schienen. »Dich haben sie hier vergessen, wie?«
    Irgendwo da draußen lebte sie. Sie arbeitete, sie lernte, sie duschte, sie kochte, sie aß und trank, sie las und sah fern, sie hatte Sex, sie dachte an gestern und morgen, sie träumte. Und sie dachte an ihn. Er wusste es.
     
    Unterwegs zum Flughafen rief er Tanaka an.
    »Die Wohnung gehört Ihnen. Sie war übrigens günstig.«
    »Sie sind ein Genie«, sagte Jonas.
    »Wo stecken Sie gerade? Wollen Sie mich nicht besuchen? Wir haben uns schon zu lange nicht mehr gesehen.«
    Jonas überlegte kurz. Tokio lag eigentlich auf dem Weg. Er versprach zu kommen.
    »Das freut mich sehr«, sagte Tanaka. »Was darf ich heute sonst noch für Sie tun?«
    »Ich möchte, dass Sie in Österreich oder Deutschland nahe an meinem Zuhause einen alten Bahnhof finden, der nicht mehr benützt wird, und ihn mieten. Danach kaufen Sie hier einen bestimmten Güterwaggon seinem Besitzer ab, lassen ihn nach Europa transportieren und auf meinem neuen Bahnhof abstellen. Auf dem Konto sollte ja trotz der Wohnung noch genug Geld sein. Wenn nicht, rufen Sie bitte Hohenwarter an.«
    »Kein Problem. Könnte nur ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.«
    »Was finden Sie eigentlich schwer?«
    »Jonas, schwer ist es, amerikanischer Präsident zu werden, sich in die richtige Frau zu verlieben, Kinder großzuziehen oder den Mond abzuschießen. Was Sie von mir verlangen, ist nicht schwer.«
    »Den Mond brauche ich noch. Bis bald.«
     
    Jonas blieb eine Woche in Tokio. In Shibuya kaufte er über Tanakas Vermittlung eine Wohnung, die er sich an zwei Nachmittagen einrichten ließ. Er hatte beschlossen, früher oder später dauerhaft in Tokio zu leben. Es war die Stadt, die er am wenigsten verstand, und zugleich jene, in der ihn nicht ständig ein Gefühl von verborgener Unsicherheit quälte. Hier war die Unsicherheit nicht unterschwellig, sondern allgegenwärtig. Hier wusste er, was und wer er war, hier war die Welt ehrlich zu ihm.
    Am Abend vor seiner Abreise lud er Tanaka zum Essen in eines der traditionellen Lokale ein, in denen man die Schuhe auszog und kniend zehn oder zwölf kleine Gänge hintereinander einnahm.
    »Ich habe allmählich das Gefühl, Sie auszunutzen«, sagte Jonas und sah zu, wie in Tanakas Mund eine noch zappelnde Tentakel verschwand.
    »Wollen Sie nicht essen?« fragte Tanaka.
    »Vielleicht den nächsten Gang.«
    »Sie nutzen mich nicht aus, Sie erweisen mir einen

Weitere Kostenlose Bücher