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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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nur noch höchstens einmal im Jahr zurück. Jedes Mal, wenn er dort aus dem Bus stieg, hatte er wieder den Zitronengeruch in der Nase, sah er den Bus wie in Zeitlupe explodieren, sah er dieses kleine, kluge Gesicht, das in seiner letzten Sekunde erstarrte, als hätte er noch gemerkt, dass etwas Schreckliches im Gange war.
    Bei Shimon lernte Jonas Schach. Als Kind war für einige Monate ein Schachgroßmeister sein Mathematiklehrer gewesen, doch da hatte ihn das Spiel nicht interessiert. Bei Shimon verstand er erstmals, worum es dabei wirklich ging, er verstand die Schönheit und die Tiefe, und am meisten faszinierte ihn, dass beim Schach auch zwei Partner von ganz unterschiedlicher Spielstärke Freude am gemeinsamen Spiel haben konnten. Dieses Spiel war komplex und zugleich von verblüffender Einfachheit, und wer immer es erfunden hatte, konnte wohl selbst nicht ganz verstanden haben, welches Wunder er da in die Welt setzte.
    Shimon verließ Israel nur ungern, Abigajil tat es gar nie. Ab und zu begleitete ihn Jonas zu Verwandtenbesuchen in die USA oder nach Europa, denn Shimon war überzeugt, dass auf Reisen immer etwas schief ging, und er wollte dabei nicht allein sein. Und so saß Jonas am Tag der New Yorker Terroranschläge mit Shimon im Central Park und spielte Schach. Im Chaos der Ereignisse der nächsten Stunden verloren sie sich mehrmals aus den Augen, trafen sich durch Zufälle wieder, um sich erneut zu verlieren, bis sie sich plötzlich an derselben Versorgungsstation wiederfanden, Wasser an Passanten verteilten und kleinere Wunden verbanden.
    Dann sahen sie sich eine längere Zeit nicht, denn nachdem Jonas dieselbe Kleidung von zu Hause geholt hatte, die er schon beim ersten Mal dabeigehabt hatte, flog er nach Rom und sperrte sich abermals für zwei Jahre in der Wohnung ein.
     
    Das darf nicht wahr sein, dachte er. Jetzt bin ich wieder hier.
     
    Niemand wusste, wo er war, und er kommunizierte mit niemandem. Die Gesichter der Pizzalieferanten hatten sich verändert, die Geräusche im Haus nicht wesentlich. Der rachitische alte Mann war gestorben, nun hustete in seiner Wohnung eine Frau, bei der es sich um seine Schwester zu handeln schien. Die Familie unter ihm stritt nicht weniger, die Tochter wohnte noch immer bei den Eltern. Die Frau nebenan pflegte nach wie vor ihren promiskuitiven Lebensstil, der zu Auseinandersetzungen und Gewalt führte.
    Die Decke über ihm war eine römische Decke.
    Es gab sie schon lange.
    Es gab sie viel länger als ihn.
    Viele hatten sie gesehen.
    Viele würden sie sehen.
    Ihnen allen war sie egal.
    Weil sie nur eine Decke war.
    Er war jetzt hier und würde noch lange hier sein und würde wiederkommen, wieder und wieder.
    Ihm war die Decke nicht egal.
    Er war der Decke egal und würde ihr morgen egal sein, und in zehn Jahren würde er ihr egal sein, und wenn er tot war, würde er ihr egal sein, er würde ihr egal sein.
     
    Nach Ablauf der zwei Jahre betrat er Salvos Laden, als sei er gerade erst in Rom angekommen. Er aß und trank und hörte sich Geschichten an, und nachts telefonierte er mit Tanaka.
    »Ich wusste, wo Sie sind.«
    »Haben Sie mir nachspioniert?« fragte Jonas.
    »Das würde ich mir nie erlauben.«
    »Woher wussten Sie dann, wo ich bin?«
    »Ich kenne Sie inzwischen ein wenig.«
    »Das könnte stimmen.«
    »Mittlerweile sind Sie Besitzer der Insel Moi im Indischen Ozean. Ihnen gehört auch eine nagelneue Viermastbark, die Sie jedoch achtzig Seemeilen entfernt auf einer anderen Insel vorfinden werden, weil man sie nicht einfach so herumschwimmen lassen kann und sie Aufsicht und Pflege benötigt.«
    »Tanaka-san, Sie sind einmalig! Und der Waggon?«
    »Steht, wo er stehen soll. Ich schicke Ihnen eine E-Mail.«
    Jonas blieb noch drei Tage in Rom, fuhr dann nach Hause, verstaute seine Kleidung im Schrank und holte sich neue. Er flog nach Oslo, deponierte wie üblich einige Devotionalien in seinem Museum, tags darauf besuchte er mit Tic das Baumhaus. Es galt einige Reparaturen in Auftrag zu geben, was sie zu erledigen versprach, obwohl das Geschäft gut lief und sie schon mehrere Baumhäuser in halb Europa zu betreuen hatte. Er übernachtete eine Woche bei ihr und fuhr danach mit dem Zug nach Hossegor, wo er gleich am ersten Tag mit Anouk eine Zehnmeterwelle erwischte.
    Plötzlich war da etwas an ihr, das er nie zuvor bemerkt hatte. Er entdeckte es auf der Welle. Anouk war etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, sie stand in ihrem leuchtend roten Neoprenanzug auf dem

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