Das größere Wunder: Roman
ein kaltes Bier und warf sich auf das frisch überzogene Doppelbett, das nach einem fremden Waschmittel roch. Er schloss die Augen, lauschte der Meeresbrandung, nickte kurz ein. Irgendwann schrak er hoch, weil ihn die Vision einer riesigen Welle heimgesucht hatte, und trank die Dose leer. Er setzte sich vor dem Haus unter einer Palme in den Sand und wusste, er brauchte Musik. Hier, an diesem Ort, wollte er Musik hören, so laut, wie es nur ging.
Er blieb ein paar Tage, während derer er sich einen Sonnenbrand holte, schwamm, tauchte, mit dem Jetski umherfuhr, selbstgefangenen Fisch grillte, jeden Morgen einen Dauerlauf um die ganze Insel unternahm. Er war fast glücklich.
Die Wochen darauf, ehe er für die Sonnenfinsternis nach Südamerika abreiste, wo er sich am Rio Santos für eine Woche eine Villa gemietet hatte, verbrachte er zur Freude Zachs in seinem alten Zuhause. Jeden Tag lief er die acht Kilometer zu dem alten Bahnhof, wo der Güterwaggon einsam in der Sonne stand, wie er früher einsam in Neuseeland gestanden war.
Stundenlang saß Jonas auf einer von Kindern bekritzelten Bank, auf der vor Jahrzehnten Fahrgäste auf ihre Bummelzüge gewartet haben mochten, roch den Geruch des Stahls, den die heißen Schienen verströmten, hörte die Grillen in den Gräsern, die die Gleise überwucherten, und betrachtete den Waggon. Manchmal ging er hin und berührte ihn.
Damals warst du da.
Jetzt bist du hier.
Es macht keinen Unterschied.
Macht es keinen Unterschied?
47
Ohne das Kuvert unter seinem Kissen hätte er vermutlich genauso gut geschlafen wie in der Nacht zuvor.
Es zu öffnen war ihm unmöglich. Jedenfalls, bevor er nicht vom Berg zurück war, denn er bezweifelte, ob er sonst noch die Kraft haben würde loszugehen.
Er lag da und grübelte. Was um alles in der Welt mochte sie ihm nur geschrieben haben?
Zwischen Hoffnung und Resignation schwankend, schlief er irgendwann doch ein. Er träumte einen idiotischen Traum, in dem er bei einem Fußballspiel gegen Argentinien mit seinem Penis ein Tor schoss. Danach tauchten Werner und Mike auf, Wellen kamen vor, schließlich war Marie da, und natürlich waren sie zusammen.
»Du hast geschrien«, sagte Marc, der ihn rüttelte.
Jonas setzte sich auf und versuchte zu ergründen, wo er war.
»Bist du bereit?«
Und wie. Und wie bereit ich bin.
Jonas zog sich an, schob den Brief ungeöffnet in eine Tasche seines Daunenanoraks, wo er ihn jederzeit erreichen konnte, und nahm seinen Rucksack auf. In der Eiseskälte vor dem Zelt wartete Marc mit seiner Stirnlampe und grinste ihn an.
»Haben Sie noch etwas zu sagen?«
Er überlegte, ob er noch etwas zu sagen hatte, bis sie den Eisbruch erreichten und die Steigeisen anschnallten. Als seine Zwölfzacker in den Gletscher bissen, hatte er nichts mehr zu sagen.
Er war unterwegs zum Gipfel des Mount Everest.
48
Und dann traf er sie.
Jene Sonnenfinsternis und sein wahnwitziger Sprung von der steinernen Plattform in das Wasser tief unter ihm führte sie zusammen, und er konnte monatelang nicht glauben, dass so etwas möglich war, dass es so intensive Gefühle gab, dass man morgens nicht wusste, ob der Muskelkater vom Lachen oder von der Liebe kam.
Ihr erzählte er alles. Sie war der erste Mensch, der die ganze Geschichte hörte, vom Anfang bis zum Ende.
Während er sein Leben vor ihr ausbreitete, dachte er daran, dass die Geschichten, die man erzählte, einem nicht mehr gehörten, doch es war ihm recht. Mit ihr teilte er alles. Seine Mutter, sein Vater, Mike, Werner, Picco, die ganze Welt. So wie sie alles mit ihm teilte, von ihrem Vater erzählte, der Unternehmer war, von der verträumten Mutter, die heimlich Gedichte geschrieben hatte, von dem Lehrer, der sie missbraucht hatte und dann an Krebs gestorben war, davon, wie sie sich selbst Gitarre und Schlagzeug beigebracht hatte, von ihrer Großmutter, die sie sehr geliebt hatte, von ihren Verstecken als Kind, von ihrer Geheimsprache. Oft kamen sie tagelang nicht aus dem Bett, sie redeten und hatten Sex und redeten und hatten Sex und redeten und redeten und redeten, bis Marie zusammenklappte und sie realisierten, dass der Pizzamann das letzte Mal vor drei Tagen vorbeigekommen war.
Es traf etwas ein, was er gehofft, aber nicht recht erwartet hatte: Sie verstand ihn.
»Na klar«, sagte sie. »Das meiste von dem, was du getan hast, kann ich durchaus verstehen. Eines bleibt allerdings offen.«
»Da bin ich gespannt.«
»Hast du je etwas Böses
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