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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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runter in die Kneipe und nimm einen Schluck. Und dann komm mit einer neuen Flasche hoch. Die hier wird leer über den Boden rollen, wenn du zurück bist.«
     
    Marie erwähnte den Ziegenmörder kein einziges Mal mehr, aber ihre seltenen Anspielungen machten Jonas deutlich, dass sie zwar das Leben eines Menschen über das eines Tiers stellte, in diesem einen Fall jedoch ein gewisses Verständnis für seine Handlung aufbrachte. Auf ihrer nächsten CD erschien ein Song, in dem es um eine alte Wohnung in Rom ging, um zwei Menschen, die darin wohnten und einander alles erzählten, darunter auch grausame Geschichten.
    Jonas hätte ihre Musik auch gemocht, wenn er Marie nicht gekannt hätte, doch ihr Beruf nahm ihnen auch Zeit weg, Zeit, die er mit ihr verbringen wollte, und wenn sie sich wochenlang mit ihrer Gitarre und ihrer Geige zurückzog, fühlte er sich zuweilen ein wenig verloren. Er war ihre Gegenwart inzwischen so gewöhnt, dass er ohne sie immerzu das Gefühl hatte, irgendetwas stimme nicht.
    Während er in Brasilien, Algerien, Griechenland und Mexiko seinen Namenszug in winziger Größe auf entlegenen öffentlichen Plakatwänden hinterließ, schrieb sie nicht mehr als ein einziges Stück, und als er in der Woche darauf die gleiche Tour noch einmal unternahm, um seine Schriftzüge zu betrachten, die sieben Tage dem Regen ausgesetzt waren, die von der Sonne beschienen wurden und an denen Leute vorbeigekommen waren, ohne dass er es mitverfolgt hatte, da bat sie ihn am Telefon, eine Woche länger fortzubleiben, der Song sei noch nicht perfekt. Und so tröstend der Gedanke daran war, dass es sie nun gab in seinem Leben, so unvollkommen fühlte er sich mitunter, wenn er in irgendeinem Hotel allein zur Decke starrte. Daran änderte auch sein Verständnis für ihre Arbeit nichts. Am liebsten hätte er sie mit sich herumgetragen, jedenfalls in diesen ersten Monaten.
    In Tokio richteten sie sich seine Wohnung gemeinsam neu ein, dies wurde ihre Basis und ihr Zuhause. Von hier flogen sie in die Welt, eine Frau, die Musik lebte, die Musik dachte, die in allem, was sie sah, Musik erkannte, ob es Äpfel waren oder Motorboote oder Farben, und neben ihr ein Geist, ein Geist auf einer undurchsichtigen Mission.
    In Oslo zeigte er ihr das Museum. Sie nannte es das wunderbarste, zauberhafteste, verrückteste und melancholischste Abbild der Zeit, in der sie lebte, das ihr je untergekommen war, und sie bat ihn, es für einen Song verwenden zu dürfen.
    »Als hätte ich das nicht gewusst.«
    »Was meinst du?«
    »Dass du darüber singen willst. Du willst immer alles ausdrücken. Bei mir ist es umgekehrt.«
    »Also, so einfach ist es auch wieder nicht, Jonas.«
    Der Song hieß schließlich »Weltmaschine«, und sie nahm ihn gemeinsam mit einem berühmten Operntenor auf, den Jonas bei einer Sonnenfinsternis kennenlernte. Auch ihm sollte Jonas nach Maries Wunsch das Museum zeigen, doch Jonas sagte nein. Sie. Nur sie.
    Drei Wochen lang wohnten sie im Baumhaus, wo er einen schweren Fieberschub erlitt und drei Tage im Schlafzimmer vor sich hin vegetierte, während Marie in der Küche auf einem Gaskocher Tee braute oder mit einem Buch neben ihm lag, wenn ihr nicht gerade die Idee für einen Song kam, die sie mit ihrem Notizbuch in ein anderes Stockwerk wandern ließ, worauf er dann irgendwo über oder unter sich stundenlang ihren Sprechgesang hörte, den Gesang und den ständig leicht variierenden Rhythmus, den sie auf den Tisch klopfte.
    Sie machten eine Reise in die Antarktis, sie streiften durch St. Petersburg, Madrid, Santiago, Bangkok, Zürich, aber auch durch namenlose Orte im Nirgendwo, in Europa, in Asien, in Amerika. Sie erlebten Sonnenfinsternisse von solcher Intensität, dass sie danach stundenlang kein Wort sprachen. Sie frühstückten auf den Dächern von Wolkenkratzern, wo ihnen der Wind Salz und Zucker in die Haare fegte, sie schliefen in Jurten, wo es bestialisch nach Jauche stank, sie fuhren in den Alpen Ski, verirrten sich im Regenwald, schauten in Motels Vorabendserien an.
    Viel Zeit verbrachten sie in Havanna, weil Marie die karibische Musik kennenlernen wollte, die sie seit ihrer Kindheit angezogen hatte, und wenn sie mit zahnlosen Straßenmusikanten über ihre Traditionen fachsimpelte, saß er daneben in der Sonne, trank Mojitos, rauchte eine Zigarre nach der anderen und kniff die Augen zusammen vor Vergnügen.
    Am Grand Canyon waren sie dreimal. Er schaute, auf dem Bauch in der Sonne liegend, in die gewaltige Tiefe vor

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