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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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mit einem Geländewagen aus der Zwischenkriegszeit über Stock und Stein in ein menschenleeres Tal, wo wir aussteigen. Nichts als Geröll und Felsen da, aber landschaftlich sehr schön, so schön, dass ich allein dafür bezahlt hätte, wenn auch nicht gleich fünfhundert Dollar.
    Nach einer Weile merke ich, dass etwas nicht stimmt. Der Boden sieht seltsam aus. Hier und da bräunlich gefärbt. Dann entdecke ich Knochenteile, dann Fleischfetzen, bis ich realisiere, dass ich umgeben von etwas bin, was die Anwesenheit der Geier über mir erklärt.«
    Er nahm einen Schluck aus der Flasche.
    »Ich weiß nicht, ob ich weiter …«
    »Auf der Stelle! Ich will das jetzt wissen!«
    »In dem Moment ruft der Kerl, den ich einige Zeit nicht beachtet habe, mir zu: ›Mister, Mister!‹ Ich schaue auf und sehe dreißig Meter vor mir eine Ziege. Der Kerl steht zehn Meter neben mir, also zu weit entfernt, um einzugreifen. Auf der Schulter hat er eine Panzerfaust. In der nächsten Sekunde kracht es, und die Ziege wird zerfetzt.«
    Marie verzog das Gesicht, als müsse sie sich gleich übergeben.
    »Tut mir leid. Wenigstens brauche ich nicht mehr weiter zu …«
    »Los! Weiter! Was war dann?«
    »Willst du es wirklich hören?«
    »Von dir will ich alles hören. Alles.«
    Jonas behielt die Flasche in der Hand. Er überlegte, wie er den schwierigeren Teil der Geschichte einleiten sollte.
    »Du weißt, ich mag Tiere. Anders als früher esse ich sie manchmal, wenn ich genau weiß, woher das Fleisch stammt. Zu Wild zum Beispiel, zu gewissen Zeiten im Jahr, lasse ich mich überreden. Aber es wird immer ein heikles Thema bleiben. Ich glaube, in ein paar hundert Jahren wird man die Tatsache, dass wir Tiere gegessen haben, auf eine Stufe mit der Sklaverei stellen. Nicht zuletzt wegen der Art und Weise, wie wir sie gehalten haben und was wir ihnen dabei angetan haben.«
    »Kann alles sein, aber was war in dem Tal?«
    »Nachdem der Mann die Ziege getötet hatte?« fragte er. »Da geht einem manches durch den Kopf. Vor allem, wenn einem dieser Unmensch eine zweite Panzerfaust bringt und gleich an einem Seil die nächste Ziege herbeizerrt, die natürlich vollkommen panisch ist. Und wenn man sieht, dass da, wo die Ziege herkommt, noch Dutzende andere Tiere hinter einem Zaun wild schreiend durcheinanderlaufen, darunter ein dürres Pferd, mehrere Hühner, ein paar Wasserschweine und ein abgemagerter Ochse. Was hättest du gemacht?«
    »Ich hätte dem Mann links und rechts eine runtergehauen.«
    Er sah sie von der Seite an.
    »Tja, das … das habe ich nicht gemacht.«
    »Na los, was hast du stattdessen gemacht? Was ist passiert?«
    Er sagte es ihr.
    Sie blieb still. Fünf Minuten, zehn Minuten. Scheiße, dachte er.
    Dann nickte sie. Sie stand auf, fasste ihn an der Hand, führte ihn nach nebenan und dirigierte ihn zum Bett.
    Binnen zehn Sekunden war sie nackt. Als er noch immer untätig dastand, knöpfte sie seine Hose auf, zog sie nach unten und stieß ihn auf die Matratze.
    Eigentlich hatte Marie keine besondere Vorliebe für diese Position, doch diesmal saß sie die meiste Zeit auf ihm. Er suchte ihren Blick, er umfasste ihre Schenkel, er betrachtete ihre schaukelnden Brüste, und wenn sie sich aufbäumte, sah er hoch zur Decke und erinnerte sich an all die Male, die er hier gelegen und dasselbe gedacht hatte.
    Die Decke über ihnen war eine römische Decke.
    Es gab sie schon lange.
    Es gab sie viel länger als sie beide.
    Viele hatten sie gesehen.
    Viele würden sie sehen.
    Ihnen allen war sie egal.
    Weil sie nur eine Decke war.
    Sie beide waren jetzt hier und würden ewig hier sein.
    Im Augenblick war ihnen die römische Decke ziemlich egal.
    Er drehte Marie auf den Rücken und stieß immer heftiger in sie. Er küsste ihren Hals, er achtete darauf, dass sie freie Sicht nach oben hatte. An ihren Kontraktionen spürte er, wie sie sich ihrem Höhepunkt näherte, und bewegte sich schneller.
    So etwas wie uns hat die Decke noch nie gesehen, dachte er, als er kam, fast zugleich mit Marie, in einem Ausbruch, der in ihm widerhallte, lauter als das Krachen einer Panzerfaust auf der eigenen Schulter, lauter als alles, was er je gehört hatte.
     
    Später lagen sie umschlungen nebeneinander und blickten nach oben, bis Marie aufsprang und nicht mehr zurückkehrte. In plötzlicher Furcht, dieser Akt sei ihre Art gewesen, Abschied zu nehmen, ging er in die Küche, wo er sie am Tisch vorfand, über ein Notizbuch gebeugt.
    »Gib mir eine Stunde«, bat sie. »Geh

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