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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Hohenwarter hatten ihm mehrfach geschworen, sie hätten mit den Schlüsseln und der ganzen Burg nicht das Geringste zu tun. Doch irgendwo schien es jemanden zu geben, der alles steuerte. Der über ihn wachte.
    »Danke«, sagte Marie.
    Er sah sie fragend an. Sie strich ihm über den Oberarm und nickte.
     
    Er war mit Marie in der Burg. Er übernachtete mit ihr in der Burg. Er war mit ihr in der Burg.
    »Jonas, ich bin glücklich«, sagte sie am Morgen neben ihm im Bett, als er schlaftrunken den Arm um sie schlang.
     
    Am Tag, ehe sie abreisten, zeigte er ihr die Piste. Sie gehörte dazu. Er hatte Marie alles darüber erzählt, und sie wollte auch diesen Ort sehen.
    Sie stiegen neben den Baumstämmen aus, wo immer noch der gleiche dunkle Geruch nach frischem Holz über dem Hügel lag. Nebel hing über den Feldern. Das Gras war nass, weil es bis wenige Minuten zuvor noch geregnet hatte, und der Gesang der Vögel klang beinahe erleichtert. Jonas fiel ein, wie Vera damals ihre Kleidung bei ihrem Sprung in die Pfütze ruiniert hatte, als sie vom Traktor geflüchtet war, und er lächelte.
    Wo sie sich wohl herumtrieb? Ob es ihr gutging? Er war ihr dankbar. Er war allen, die auf sie gefolgt waren, heute dankbar.
    Er schaute ins Tal, und seine Stimmung sank augenblicklich. Marie neben ihm schwieg ebenfalls. Eine Viertelstunde und noch länger stand sie da und drückte sich an ihn, bis sie ihn sanft am Ohr zog und ihm zuflüsterte:
    »Du wirst nicht wieder von hier verschwinden, bevor du das nicht erledigt hast.«
    »Keine Ahnung, was du meinst. Was muss ich erledigen?«
    Sie stellte sich vor ihn hin, sah ihn fest an, wies mit dem Daumen hinter sich auf die Straße, dann bohrte sie ihm ihren Zeigefinger in die Brust.
    »Das.«
    »Tut mir leid, bei Activity war ich immer mies.«
    »Auf der Herfahrt habe ich gesehen, wo wir hinmüssen. Ich lotse uns an dein Ziel.«
    Entschlossen strebte sie dem Auto zu. Er folgte ihr langsam.
    »Und wenn ich da gar nicht hinwill?«
    »Dann machst du es für mich.«
    Ihre Blicke trafen sich, er sah sofort wieder weg.
    Mit einem lauten Seufzen setzte er sich ans Steuer. Ihm stand zweifellos etwas Unangenehmes bevor, doch er ahnte noch nicht, was sie im Sinn hatte. Widerwillig lenkte er den Wagen nach ihren Anweisungen über die nassen Straßen, die er ewig zu kennen schien, und versuchte erfolglos, Marie durch Anekdoten und Witze aus dem Konzept zu bringen. Die Zeit verrann, und bald hielten sie vor dem Friedhof.
    »O nein«, sagte er, »nicht das!«
    »O doch«, sagte sie, »das!«
    Er zog den Zündschlüssel ab und drehte Zachs grässlichen Fuchsschwanzanhänger zwischen den Händen, ohne Marie anzusehen. Beide schienen auf etwas zu warten. Er hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, und sprach als erster.
    »Marie, ich habe ihre Erinnerung. Ich brauche diesen Ort nicht.«
    »Ich glaube dir nicht.«
    »Du meinst, ich sage die Unwahrheit?«
    »Nein, du würdest mich niemals belügen, das weiß ich. Ich glaube, du bist dir nicht darüber im Klaren, was du mit dir herumschleppst. Es wird Zeit, deine Bürde hierzulassen, denn hier gehört sie hin.«
    Sie stieg aus, öffnete die Fahrertür und zupfte ihn am Ärmel. Sie zupfte noch mal, wieder und wieder, ein unschuldiges Lächeln im Gesicht, bis er lachen musste und sich schließlich bis zur Friedhofspforte begleiten ließ. Auch danach blieb sie an seiner Seite, und auf seine Bemerkung, er würde den Weg nun schon allein finden, schüttelte sie nur den Kopf.
     
    Und dann stand er vor dem Grab, in dem sie alle lagen. Hier ließ Marie ihn allein, nachdem sie sich vor dem Grabstein bekreuzigt hatte.
    »Wenn das Picco gesehen hätte«, rief er ihr nach, im Versuch, mit einem Witz seiner Beklemmung Herr zu werden.
    Sie zeigte ihm die Zunge. »Soll er rauskommen und sich beschweren.«
    Er blieb, und er blieb lange. Er blieb viel länger, als er gedacht hatte. Es war schwer, und es war viel schwerer, als er es sich hätte träumen lassen, in Tokio oder in Oslo oder in Košice oder in Mailand oder in Madrid oder in Havanna oder in Buenos Aires oder in Jerusalem oder in seinem Baumhaus oder in Rom.

49
     
    Zum vierten Mal erlebte Jonas das Morgengrauen und den Vormittag im Khumbu-Eisbruch, und diesmal fühlte er sich besser als bei allen Aufstiegen zuvor, obwohl es wärmer als vorhergesagt war und er seit einer Stunde jämmerlich schwitzte. Gern hätte er eine Pause gemacht, um überflüssige Kleidung auszuziehen und auf den Rucksack zu packen oder

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