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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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nichts gefallen, das mag ich.«
    Er setzte sich zurecht und schlug einen heiteren Ton an.
    »Rate mal, wie hoch die Welle in der Lituya-Bucht war!«
    »Ich kenne keine Lituya-Bucht, und ich finde Surfen nicht so faszinierend wie du, mein Schatz.«
    »Auf der hätte ich nicht surfen wollen, denn sie war zwischen dreihundert und fünfhundert Meter hoch. Oder vielleicht hätte ich doch …«
    Sie legte ihr Buch weg, umfasste seinen Nacken, zog ihn an sich und küsste ihn.
    »So. Geht’s wieder? Fünfhundert Meter?«
    »Ein Stück vom Berg war in die Bucht gestürzt, wenn ich mich recht erinnere. Die Welle war wirklich so hoch. 1963 oder 1964 ist das gewesen. Einer von denen, die damals auf See waren, hat diesen Monstertsunami sogar überlebt.«
    »Du willst mir erzählen, jemand überlebt eine Dreihundertmeterwelle, die über ihn hinwegfegt? Von Physik hast du offenbar gar keine Ahnung.«
    »Ich behaupte nicht, sie sei über ihn hinweggefegt. Er hat mit seinem Kutter direkt darauf zugehalten. Ist frontal darauf zugefahren. Die Welle hebt seinen Kahn, hebt ihn und hebt ihn, und auf der anderen Seite geht es abwärts. Solange man noch weit genug draußen ist und die Welle nicht bricht, ist der zweite Teil viel gefährlicher. So funktionieren Wellen.«
    »Jonas! Dreihundert Meter?«
    »Fünfhundert!«
    Sie lachten beide. Dann sahen sie sich eine Komödie im Bordfernsehen an und lachten weiter. Sie lachten den ganzen Flug hindurch, sodass sich die Leute nach ihnen umdrehten.
     
    Zach sah verändert aus. Zuerst dachte Jonas, es seien die Haare, die allmählich grau zu werden begannen, bis er begriff, dass es sein Gesichtsausdruck war. Er umarmte Jonas schon am Bahnhof bei jeder Gelegenheit, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, er machte Marie Komplimente und ließ immer wieder Bemerkungen über Familienplanung fallen.
    »Willst du dich vermehren, Zach? Nur zu. Darf ich Taufpate sein?«
    »Erstens handelt es sich nicht um mich. Zweitens werden in diesem Haus keine Kinder getauft, sonst steigt der Alte aus der Gruft und rasselt nachts mit der Kette. Drittens würde ich nur Mädchen kriegen, und dann würde ich deine Freundin fragen, ob sie Patin werden will.«
     
    Als Jonas mit Marie die Burg betrat, wurde ihm erst bewusst, wie lange er nicht mehr dagewesen war. Und auch sonst niemand, was die Spinnweben an der Tür und den Fenstern, ja sogar an Stühlen und Tischbeinen bezeugten.
    Bis auf den Staub sah alles aus wie beim letzten Mal. Nur der Schlüssel war damals mit Sicherheit noch nicht auf dem Tisch gelegen.
    »Hast du den da hingelegt?« fragte Jonas.
    »Wieso sollte ich das?« entgegnete Marie. »Um dich zu foppen?«
    »Als ob du das nie tätest.«
    »Stimmt, aber in dem Fall nicht. Ich weiß ja, was diese Schlüssel bedeuten. Ich ärgere dich gern, aber sogar ich habe Grenzen. Außerdem wirst du sonst grummelig wie neulich.«
    »Wann war ich bitte grummelig?«
    »Können wir das bitte lassen? Probier endlich den Schlüssel aus! Los, los, mach schon!«
    Es war der Schlüssel zur roten Tür. Die allerwichtigste Tür. Die Tür aller Türen.
    Jonas hielt einen Moment inne. Er dachte daran, wie er vor etlichen Jahren hier mit Werner gestanden war, und hatte sofort den Geruch jener Zeit in der Nase, den Duft des anbrechenden Frühjahrs, der aufblühenden Bäume und Sträucher.
    Ob Werner gerade in der Nähe war? Oder Picco?
    »Bleiben wir hier stehen?« flüsterte Marie. »Oder willst du auch mal reingehen?«
    »Kannst du vielleicht meine Hand nehmen?« bat Jonas, als er die Tür aufstieß.
    Sie betraten das Zimmer. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sagte nichts.
    »Jonas, das ist ein Schlafzimmer. Mit einem Ehebett.«
    Er nickte.
    »Das muss Zach gewesen sein«, meinte sie. »Es passt zu gut.«
    »Er war es garantiert nicht.«
    »Woher weißt du das?«
    »Weil der sich eher eine Hand abhacken würde, als mich anzulügen.«
    »Tja, dann weiß ich auch nicht. Hübsch ist es ja, sehr sogar. Ein wenig aus der Mode gekommen vielleicht. Aber ich mag so was. Muss dringend gelüftet werden.«
    Minutenlang stand er da und schaute sich um. Erinnerte sich an die Zeit, als er mit Werner durchs Schlüsselloch gespäht hatte, um einen Blick auf das zu erhaschen, was nun vor ihm lag. All das war schon damals hier gewesen, genau so wie heute. Eine Zeitkapsel, wie Picco gesagt hatte. Leider hatte Werner nichts davon zu Gesicht bekommen.
    Eine Erklärung fand Jonas dennoch nicht. Alle Hausbewohner einschließlich

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