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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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was soll ich machen? Sag mir, was ich machen soll!«
    »Du schneidest mir das Hosenbein auf. Wir müssen erst mal wissen, was da los ist. Ich glaube aber, ich weiß es schon. Verdammte Scheiße!«
    Jonas nahm das Messer und schnitt nach Marcs Anweisungen dessen Beinbekleidung auf. Je tiefer er kam, desto schwieriger wurde es. Jede einzelne Stoffschicht war blutgetränkt, und Marc zuckte immer wieder zusammen. Zur untersten Hose musste Jonas nicht mehr vordringen, der gebrochene Schienbeinknochen hatte nicht nur Fleisch und Haut, sondern auch den Stoff durchbohrt.
    »Marc, wir haben ein Problem.«
    »So kann man’s auch sagen, ja.«
    »Wir haben ein richtiges Problem, Marc.«
    »Nein, ich habe ein Problem. Du gehst auf der Stelle weiter!«
    »Ich gehe nirgendwohin! Du wirst jetzt verarztet! Dieses Bein muss geschient werden, oder es geht dir wie dem armen Belgier.«
    Marc lachte. »Der Belgier! Mir ist der gleiche Mist passiert wie diesem Sonntagswanderer! Hahahaha! Zum Glück hat mein Sanitäter mehr Grips!«
    »Marc, ich werde dein Bein nicht anrühren. Wir warten auf einen Arzt, der dich hier versorgt, danach befördern wir dich runter.«
    »So? Da gibt es nur ein Hindernis.«
    »Ich sehe keines.«
    »Hier ist schon eine Weile niemand mehr vorbeigekommen, und zwar genau seit dem Einsturz dieses Séracs. Ja?«
    »Jetzt, wo du es erwähnst …«
    »Das hat einen Grund. Wir sollten davon ausgehen, dass der Weg hinunter momentan unpassierbar ist. Entweder kommt man an den Eisklötzen nicht vorbei, oder es liegt an einer zerstörten Leiter. Ich tippe auf Variante 2, und das kann dauern. Bis dahin sitzen wir fest. Das heißt, ich sitze fest. Du gehst hoch, und zwar sofort.«
    Jonas überlegte kurz.
    »Gib mir mal dein Funkgerät«, befahl er.
    »Was willst du denn damit?«
    »Na was wohl? Wir sollten da unten mal Bescheid sagen. Sind die Schmerzen sehr stark?«
    »Ich versuche sie auszublenden. Wenn ich es schaffe, mich keinen Zentimeter zu bewegen, geht es. Falls dir ein Handschuh runterfällt und mein Bein trifft, werde ich zum Tier.«
    Im Basislager meldete sich Helen, sie war klar und deutlich zu hören. Jonas erklärte ihr, was passiert war, und bat sie, sich mit Hadan in Verbindung zu setzen.
    »Ist er vor oder hinter uns, was meinst du?« fragte er Marc.
    »Hinter uns, garantiert. Er sammelt gern die Nachzügler ein.«
    »Wie weit ist es von hier noch bis Lager 1?
    »Keine zwanzig Minuten.«
    »Okay. Helen, hörst du mich?«
    »Was habt ihr jetzt vor? Wir schicken euch Ang Babu und Mingma!«
    »Wir müssen warten, bis die Route wieder frei ist. Kannst du in der Zwischenzeit Hilfe von oben organisieren? Wir sind zwanzig Minuten unter Lager 1. Wir brauchen einen Arzt, Träger und eine Trage.«
    »Verstanden«, sagte Helen. »Kümmere mich um alles.«
    »Da hörst du es«, sagte Jonas zu Marc. »Sie ist besser, als du denkst.«
    »Vielleicht taugt sie als Organisatorin, als Ärztin ist sie gemeingefährlich. Aber das ist jetzt nicht mein Hauptproblem. Hier ungeschützt dazuliegen macht mich nervös! Wenn noch so ein Ungetüm da runterkommt, kann ich ja kaum davonfliegen, das walzt mich platt.«
    »So viel zu ›Wir klettern getrennt vom Team‹ und zu ›Wenn jemand in Not gerät, helfen wir natürlich‹. Die müssen jetzt uns aus der Tinte ziehen.«
    »Ach, lass mich in Ruhe.«
    Besorgt musterte Jonas seinen Freund. Marc war bleich, auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß, ab und zu biss er die Zähne zusammen und stöhnte leise.
    »Hast du für solche Fälle nichts dabei?« fragte Jonas. »Eine Morphiumspritze oder Ähnliches?«
    »Was willst du denn mit Morphium?«
    »Na was wohl, nehmen würde ich es an deiner Stelle!«
    »Jonas, das ist nicht mein erstes gebrochenes Bein.«
    »Auch recht. Trotzdem lagern wir es jetzt hoch. Wird nicht ganz angenehm, muss aber sein.«
    Als die Daunenjacke, die er vor dem Unglück ausgezogen hatte, unter seinem Rucksack zum Vorschein kam, nahm er den Brief heraus und steckte ihn in den Rucksack. Er bettete Marc auf die Jacke und schob den anderen Rucksack unter das verletzte Bein, während er von seinem Freund mit einigen Schimpfwörtern bedacht wurde.
    »Das hat man von seiner Fürsorge«, sagte er und machte sich auf den Weg nach unten, um in Erfahrung zu bringen, ob es da wirklich kein Durchkommen gab.
    Weit musste er nicht gehen. Einer der Eisbrocken hatte die zwei Leitern, die man über einer Gletscherspalte zusammengebunden und als Brücke benützt hatte, aus der

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